24.02.20 – Textilkontinent Europa – Chancen und Risiken, Teil 2 — read English version
„Europas Green Deal Textil – das Unmögliche möglich machen!“
Für den Studiengang Modedesign an der Hochschule Hannover ist der 13. Januar ein aufregender Tag. Es ist Fashion Week in Berlin und sie sind mit dabei.
Es ist wieder Fashion Week in Berlin und im Reef Conference Center stehen fast 2.000 Menschen Schlange. Das hat Berlin noch nicht gesehen: Drei Modeshows hintereinander, je eine Stunde, vor und hinter der Bühne geht es zu wie im Taubenschlag.
Trendscouts großer europäischer Labels sind angereist und auch der Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie hat zu seinem Neujahrsempfang an den Ort der Neo.Fashion.2020 eingeladen. „Wir können Green Deal Textil“, begrüßt Hauptgeschäftsführer Uwe Mazura die Gäste im Loft14, während der Sonnenuntergang den Himmel über der Modehauptstadt Berlin in ein orangerotes Abendlicht taucht.
Gerade erst hat Ursula von der Leyen in Brüssel Details ihres Green Deal vorgestellt, für sie nicht mehr und nicht weniger als Europas „Mann-auf-dem-Mond-Projekt!“ Für Johannes Diebel, Leiter des Forschungskuratoriums Textil, sind die deutsche Textilindustrie und die Textilforschung für den Green Deal hervorragend aufgestellt. Textil kann viel, wenn es um Ressourcen- und Umweltschutz geht und selbst „Mann-auf-dem-Mond-Projekte“ sind der deutschen Textilforschung nicht fremd.
Bauen auf dem Mond – mit Mondfasern!
Thilo Becker und Alexander Lüking, zwei junge Faserspezialisten an der RWTH Aachen, haben den Stoff zum Bauen auf dem Mond entwickelt. Aus dem reichlich vorhandenen Mondgestein mit hohem Basaltanteil können sie hochfeste Fäden, sogenannte Mondfasern, spinnen – mit einem eigens dafür entwickelten Equipment von der Größe eines kleinen Kühlschranks. Raumfahrtexperten interessieren sich bereits für die Entwicklung aus Mondgestein, schließlich kostet jedes Kilogramm Material, das auf den Mond geschossen werden muss, gut 10.000 Euro.
Das neue Jahrzehnt wird auch für die europäische Textil- und Modeindustrie tiefgreifende Veränderungen bringen. Europa soll bis 2050 klimaneutral sein.
Klimaneutrale Modeproduktion ist möglich!
Viele der Abschlusskollektionen, die an diesem Abend in Berlin über den Laufsteg gehen, haben sich bereits der Frage nach einer klimaneutralen Modeproduktion angenommen. Beispielsweise Claudia Bumb von der Hochschule Hannover mit ihrer Kreislauf-Kollektion „Under Water Over Flow“, die ökologische und upgecycelte Materialien aus Cellulose, Seide, Baumwolle oder Meeresplastik verarbeitet hat.
Ihre Kommilitonin Annika Jasmer setzt bei ihren Kreationen ganz auf die Kompostierbarkeit und hat in Island Pflanzenfärbung, handgewebte Stoffe und hochwertige Naturmaterialien recherchiert. Was bei der Neo.Fashion.2020 über den Catwalk geht, gibt die Richtung für ein neues Jahrzehnt der Nachhaltigkeit vor.
Trübe Stimmung beim Thema Energie
Die Aufbruchstimmung trübt sich schnell ein, wenn es um die konkreten Folgen des Klimapakets in Deutschland für die Textilindustrie geht. Nach einer aktuellen Umfrage des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und Modeindustrie zum kürzlich verabschiedeten Brennstoffemissionshandelsgesetz der Bundesregierung, kurz BEHG, erwarten die energieintensiven Textilproduzenten, wie Veredler oder Vliesstoffhersteller, im Durchschnitt 20 Prozent mehr Energiekosten ab nächstem Jahr.
Hauptgeschäftsführer Uwe Mazura kennt eine ganze Reihe von Mittelständlern, die sogar ans Aufgeben denken: „Es kann doch nicht sein, dass unsere Unternehmen neben den höchsten Strompreisen weltweit jetzt noch die volle Rechnung dafür zahlen sollen, dass es noch nicht ausreichend grüne Energie für unsere Produktionsprozesse gibt,“ so Mazura. Für ihn stellt sich mehr denn je die Frage nach der Vergleichbarkeit der klimapolitischen Ambitionen der großen Industrienationen. „Unsere Unternehmen machen über 40 Prozent ihrer Umsätze im Export und zwar mit Produkten, die hier in Deutschland sehr viel umweltfreundlicher und ressourceneffizienter als andernorts hergestellt werden. Was ist für den Klimaschutz gewonnen, wenn wir hier in Deutschland aus Kostengründen nicht mehr produzieren können und die Produkte dann mit einem ganz anderen ökologischen Fußabdruck im Ausland hergestellt werden?“
Warnruf an die Politik
Das ist derzeit eine Frage, die die Industrien in ganz Europa umtreibt, jedes Land mit anderen Vorzeichen. Der frühere EU-Kommissar Günther Oettinger warnt bei der Jahrestagung vom Gesamtverband textil+mode, dass Europa erst seine Industrie und dann seinen Wohlstand verliert. „Die Industrie geht nicht zum Einwohnermeldeamt. Unternehmen gehen leise, indem sie eben nicht mehr in Dortmund oder Stuttgart investieren, sondern außerhalb Europas. Wir verlieren Tag für Tag unsere industrielle Basis und merken es nicht mal“, so Oettinger.
Während in Brüssel um das 1.000 Mrd. Euro Investitionsprogramm für den Green Deal gerungen wird, kämpft die mittelständische Textilindustrie in Deutschland für realistische Energiepreise, wenn 2021 in der größten europäischen Volkswirtschaft die CO2-Bespreisung beginnt.
Michael Engelhardt, Leiter des Energiereferats beim Gesamtverband textil+mode:
„Nur wenn die betroffenen mittelständischen Industrieunternehmen vom ersten Tag an im selben Umfang vom CO2-Preis entlastet werden wie Unternehmen im EU-Emissionshandelssystem, kann uns der Einstieg in eine neue Energiepolitik gelingen. Alles andere ist ein Anschlag auf unsere Wettbewerbsfähigkeit. Wir stehen ausdrücklich zu den Klimazielen der Bundesregierung. Doch der Weg in eine klimaneutrale Produktion hat erst begonnen. Unsere mittelständischen Unternehmen brauchen Investitionsspielräume, um den Green Deal zu gestalten. Diese werden ihnen allerdings durch die weltweit höchsten Strompreise und die CO2-Bepreisung ab nächstem Jahr genommen. Viele mittelständische Unternehmen denken deshalb über Produktionsverlagerungen ins Ausland nach.“
Kein gutes Signal für den Nachwuchs
Für Studiengänge wie Modedesign oder Bekleidungstechnik an der HTW Berlin wäre das kein gutes Signal für die Zukunft. Sie setzen auf standortnahe Industrie. Zusammen mit Hussein Challayan, dem britischen Modeschöpfer mit türkisch-zyprischer Herkunft, baut auch Berlin einen TextilHub mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit und Innovation auf. „Ich glaube manchmal, nur mithilfe von Technologie kann heute noch wirklich Neues entstehen. Ingenieure und Programmierer schaffen Dinge, die es vorher noch nie gegeben hat. Für mich geht es deshalb um Innovation und darum, Risiken einzugehen. Eigentlich geht es darum, das Unmögliche möglich zu machen“, sagt Challayan bei seiner Vorstellung in Berlin und liegt damit auf einer Wellenlänge mit Ingeborg Neumann, der Präsidentin des Gesamtverbandes von textil+mode, die zum Auftakt der Neo.Fashion.2020 von einer Zeitenwende mit gewaltigen Umwälzungen spricht, die jetzt gemeinsam gestaltet werden muss.