11.02.16

Webmaschine 4.0

Neben der horizontalen Vernetzung, also der Vernetzung von CPS auf Feldebene beinhaltet Industrie 4.0 die vertikale Vernetzung. Eine erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0 kann nur funktionieren, wenn der Mensch frühzeitig in alle Entwicklungsstadien mit einbezogen wird. Aus diesem Grund sind neue Formen der Mensch-Maschine Schnittstelle eine wichtige Komponente der Industrie 4.0.

Auswertung von Frage 1 - Kritische Maschinenkomponenten Photos: RWTH Aachen

Auswertung von Frage 1 - Kritische Maschinenkomponenten Photos: RWTH Aachen

 
Auswertung von Frage 2 - Gründe für die Unterbrechung des Webprozesses

Auswertung von Frage 2 - Gründe für die Unterbrechung des Webprozesses

 
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Die Textilproduktion im Sinne der Industrie 4.0 stellt besondere Herausforderungen an Mitarbeiter aller Ebenen. Zusätzlich setzt ein Ungleichgewicht der Altersstruktur in der Belegschaft im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel produzierende Unternehmen in Deutschland unter Druck. Jüngere Mitarbeiter verfügen oft nicht über den erforderlichen Erfahrungsschatz, um hochqualitative Produkte kosten- und zeiteffizient zu produzieren. Allerdings nehmen jüngere Mitarbeiter als sogenannte Digital Natives neue Produktionstechnologien der Smart Factory mit höherer Bereitschaft an.

Ältere Mitarbeiter besitzen weitreichende Erfahrungen, um Qualitätsansprüche der zukünftigen Textilproduktion weiterhin aufrecht zu erhalten. Oftmals führt jedoch fehlende Akzeptanz gegenüber intelligenten Produktionstechnologien zu Barrieren hinsichtlich der Umsetzung der Industrie 4.0. Barrieren können entstehen, wenn Anwender eine Distanzhaltung bzgl. neuer Technologien einnehmen oder die Bedienbarkeit nicht auf individuelle Bedürfnisse angepasst wird.

Vor dem Hintergrund steigender Automatisierungsgrade im Zusammenhang mit der vierten industriellen Revolution werden neue Konzepte der Mensch-Maschine Schnittstelle benötigt. Neue Formen der Mensch-Maschine Schnittstelle nehmen die Rolle von Assistenzsystemen ein, um ältere Mitarbeiter bei der Nutzung neuer Produktionstechnologie zu unterstützen und den Wissenstransfer von erfahrenen zu jüngeren Mitarbeitern sicherzustellen. Mittels technischer Unterstützung erweitern Mitarbeiter ihr Knowhow und erlangen die Fähigkeit, Probleme in Produktionsprozessen flexibel zu lösen.

Im Rahmen einer Befragung von insgesamt acht Webereien in Deutschland und Belgien wurden Anforderungen an ein AR-basiertes Assistenzsystem für Webmaschinen ermittelt. Anhand von Fragebögen wurden die folgenden drei offenen Fragen gestellt:

1.Welche Komponenten Ihrer Webmaschinen erfordern den meisten Aufwand hinsichtlich Wartung oder Austausch?

2.Welche Fehler führen oft zu einer Unterbrechung des Webprozesses?

3.Welche Arbeiten oder Vorbereitungen an Ihren Webmaschinen erfordern die meiste Zeit?

Die folgende Auswertung der Befragung basiert auf 18 von den Webereien zurückgesendeten und vollständig ausgefüllten Fragebögen.

Aus Abbildung 1 geht hervor, dass die Schere zur Abtrennung der Fangleiste die meistgenannte kritische Webmaschinenkomponente ist. Das unvorhersehbare Verstumpfen der Klingen und der damit verbundene Wartungs- und Reparaturaufwand wird von den befragten Webereien als besonders kritisch eingeschätzt.

Aus Abbildung 2 wird ersichtlich, dass Kett- und Schussbrüche zu den häufigsten Gründen für Maschinenstillstände zählen.

Anhand der Auswertung von Frage 3 wird deutlich, dass die Reparatur von Kett- und Schussfäden zu den zeitaufwändigsten Arbeiten der befragten Webereien zählen, siehe Abbildung 3.

Auf Basis der präsentierten Befragungsergebnisse wird ein Prototyp einer AR-basierten mobilen Applikation zur Assistenz von Webmaschinenbedienern entwickelt. Der Prototyp fokussiert zunächst die Assistenz bei der Behebung von Schussbrüchen.

Schussbrüche zählen laut den Ergebnissen der Befragung sowohl zu den häufigsten Gründen für die Unterbrechung des Webprozesses als auch zu den zeitaufwändigsten Arbeiten in den befragten Webereien.

In einem beispielhaften Szenario detektiert die Sensorik einer Webmaschine einen Schussbruch. Der Webmaschinenbediener nutzt sein mobiles Endgerät, um dem Assistenzsystem zunächst die Stelle des Schussbruches mitzuteilen. Anschließend erhält der Weber fallspezifische Assistenz bei der Behebung des Schussbruches durch AR-basierte Instruktionen.

Das Software Development Kit (SDK) der Firma metaio GmbH, München diente der Entwicklung einer AR-basierten Applikation. Unter Nutzung eines 3D Tracking - Verfahrens wird eine dreidimensionale Landkarte der Umgebung der Webmaschine entwickelt. In dieser Landkarte beschreiben Koordinaten beliebige Punkte an der Webmaschine und der aufgenommenen Peripherie. Mithilfe der Koordinaten können Instruktionen und AR-basierte Hinweise, wie z.B. Pfeile oder Markierungen, in das Sichtfeld des Anwenders eingeblendet werden.

Abbildung 4 zeigt den Screenshot eines Smartphones, auf dem die Applikation zur AR-basierten Assistenz bei der Schussbruchbehebung ausgeführt wird.

In Abbildung 4 ist der erste Schritt des entwickelten Assistenzsystems dargestellt. Der Webmaschinendiener identifiziert die Position des Schussbruches, indem er die Geräte für den Schusseintrag mit der Kamera seines Smartphones fokussiert. Der Nutzer beantwortet die Frage „Befindet sich Garn in dem Rahmen?“ (‚Is there yarn in the frame‘, Abbildung 4) per Tippen auf den Bildschirm seines Smartphones. Nachdem die Position des Schussbruches identifiziert wurde, assistiert die Applikation bei der Behebung des Schussbruches. In Abbildung 5 ist die erste Instruktion des Assistenzsystems im Falle eines Schussbruches vor dem Vorspulgerät dargestellt.

Benötigt der Webmaschinenbediener Assistenz bei der Behebung eines Schussbruches, welcher vor dem Vorspulgerät auftrat, fokussiert er den Eingang des Vorspulgerätes mit der Kamera seines Smartphones. Die dreidimensionale Landkarte, welche in der Assistenz-Applikation hinterlegt ist, erkennt das Vorspulgerät und blendet die hinterlegten Instruktionen und Hinweise an definierten Koordinaten ein, siehe Abbildung 5. Nach dem Einführen eines neuen Schussfadens in das Vorspulgerät unterstützt die Applikation den Webmaschinenbediener bei der Führung des Schussfadens bis zur Hauptdüse. Weiterhin erhält der Webmaschinenbediener Assistenz zur Bedienung und Konfiguration des Vorspulgerätes, welche von der Erklärung des Gerätes bis hin zur korrekten Fadenführung reicht.

In zukünftigen Forschungsarbeiten wird der entwickelte Prototyp aus soziotechnischer Perspektive beleuchtet. Die entwickelte Applikation wird sowohl funktional als auch hinsichtlich Usability und Akzeptanz bei den Mitarbeitern optimiert. Die Applikation wird Nutzertests im Labormaßstab sowie im Produktionsumfeld in Webereien unterzogen.

Im Rahmen der Nachwuchsforschergruppe „SozioTex - Neue soziotechnische Systeme für die Textilbranche“ führt das Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen (ITA) gemeinsam mit dem Institut für Soziologie der RWTH Aachen (IfS) empirische Anforderungsermittlungen für Assistenzsysteme 4.0 durch. Im realen Produktionsumfeld dienen Betriebsbeobachtungen und Experteninterviews der frühzeitigen Integration von Anwendern in die Entwicklung neuer Mensch-Maschine Schnittstellen für die Textilindustrie 4.0. Nach der technischen Implementierung fallspezifischer und individueller Lösungen folgen Nutzertests, um Technik zu entwickeln, die den Menschen wirklich unterstützt.

Die Autoren danken dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für die Förderung der beschriebenen Arbeiten im Rahmen der Nachwuchsforschergruppe „SozioTex - Neue soziotechnische Systeme für die Textilbranche“ im Programm „Interdisziplinärer Kompetenzaufbau im Forschungsschwerpunkt Mensch-Technik-Interaktion für den demografischen Wandel“.

[Saggiomo, M.; Longé, G.; Gloy, Y.-S., Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen University, Aachen]

[ www.rwth-aachen.de]