28.10.15 — read English version

„Go East“?

Steigende Lohnkosten und der Preisdruck durch die Liberalisierung des Welthandels zwingen vor allem westeuropäische Bekleidungsunternehmen, ihre eigentliche Produktion oder arbeitsintensive Prozesse immer weiter ostwärts zu verlagern. Eine Situationsanalyse von der Oder bis zum Ural.

Kollektionsfoto Speidel: Aus der aktuellen Speidel-Kollektion Photo: Speidel GmbH

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Hans-Jürgen Speidel Photo: Speidel

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Lieferbeziehungen nach Rumänien und Bulgarien wurden verstärkt zu Lasten von Polen, Ungarn und Tschechien. Standorte mit langer textiler Tradition, die ehemals für ihre feine Textilproduktion bekannt waren, widmen sich mehr und mehr Nischenprodukten oder dem zukunftsträchtigen Gebiet der technischen Textilen.

Vor allem in Bulgarien und Rumänien mit Arbeitskosten in der Bekleidungsindustrie von 1,80 bzw. 2,66 EUR pro Stunde (Angaben EUROSTAT 2012) und auch zunehmend in Moldawien wird derzeit westliche Mode für das mittlere und hohe Preissegment produziert.

Die Länder haben eine gute strategische Position im Zentrum von Osteuropa. Rumänien wird als wichtigster Bekleidungslieferant unter den mittel- und osteuropäischen Ländern gesehen und oft auch als „China des Westens“ oder die „Nähstube Europas“ bezeichnet.

Die Firma Speidel mit Stammsitz in Bodelshausen hat z. B. schon Ende der 80er-Jahre an der österreichisch-ungarischen Grenze konfektionieren lassen. Seit 2000 gibt es ein zweites Werk in Focsani/Ost-Rumänien mit inzwischen 5.600 Quadratmeter und 230 Beschäftigten. Bei den EU-Nachbarn werden die arbeitsintensiven Schritte der Produktion gemacht: Frauen an Nähmaschinen fügen die Zuschnitte zusammen. Strickprozess, Nachbehandlung, Veredlung und Versand erfolgen in der Bodelshäuser Zentrale.

Hans-Jürgen Speidel, Technik- und Produktionschef auch für die Werke in Ungarn und Rumänien, fasst zusammen: „Wir haben gute Erfahrungen in unseren osteuropäischen Werken gemacht, sowohl hinsichtlich der Logistik als auch qualitätsmäßig, da wir die Prozesse selbst in der Hand haben.“

Zara, Steilmann, Hugo Boss, Pierre Cardin, Benetton sind unter den Marken, die sich für Rumänien entschieden haben und mit "Made in Europe" werben. Nach den tragischen Unfällen in asiatischen Textilfabriken nutzen Markenfirmen eine Verlagerung nach Osteuropa auch als Marketingfaktor. Weitere Vorteile: Der rumänische Mindestlohn beträgt etwa 150 Euro pro Monat, Rumänien kann in weniger als einer Woche produzieren und liefern, beträchtliche logistische und Arbeitskosten- Einsparungen auf dem europäischen Markt.

Nicht zu unterschätzen sind die Währungseffekte: Durch die Verteuerung des US-Dollars sind osteuropäische Produktionsstätten wettbewerbsfähiger.

Beobachtet wird teilweise, dass die niedrigen Löhne und die mit Beitritt zur EU im Jahr 2007 steigenden Lebenshaltungskosten zu freien Stellen in der rumänischen Textilindustrie führen und ausländische Arbeitskräfte (aus China, Philippinen) angeworben werden bzw. in Industrie-Roboter investiert wird.

Bulgariens Textil- und Bekleidungsindustrie ist derzeit sehr zuversichtlich und exportorientiert mit Anbindung an ausländische Auftraggeber. Kaum ein Zehntel der Produktion verbleibt im Inland und die Branche nutzt die Chance zur Modernisierung. Einen guten Ruf haben vor allem die in Südbulgarien unter griechischer Führung etablierten Betriebe.

Die Republik Moldawien und die Ukraine sind inzwischen für Rumänien immer stärkere Konkurrenten, da sie die westlichen Auftraggeber durch deutlich niedrigere Lohnkosten abzuwerben drohen. In Moldawien sind 330 Bekleidungsfirmen registriert (2013), die Bekleidungsindustrie ist einer der größten Arbeitgeber und Exporteur (11,8 % in 2013) der moldawischen Wirtschaft. Zwischen 2001 und 2008 haben sich die Bekleidungsexporte mehr als verdreifacht. Etwa 80 bis 90 % der Bekleidung wird als Passive Lohnveredelung produziert. Die meisten Bekleidungsfabriken sind in moldawischem, etwa 16 % in ausländischem (italienischem, rumänischem und türkischem) Besitz. Bei der Modernisierung ihrer Wirtschaft erhält die Republik Moldau (Moldawien) Unterstützung durch spezielle Kredit- und Förderprogramme der EU, der EBRD sowie der Weltbank, von denen auch deutsche Unternehmen profitieren können, die sich vor Ort engagieren möchten.

Immer wichtiger wird auch Belarus als Lohnfertiger für europäische Hersteller-Marken von Bekleidung sowie für russische Filialisten (z.B. TVOJE). Außerdem gewinnt die West-Ukraine (Arbeitskosten Ukraine für Bekleidung: 1,58 EUR pro Stunde) an Bedeutung für ausländische Auftraggeber von Lohnfertigung (z.B. Basler). Die Comazo GmbH & Co. KG, Albstadt, hat noch weiter östlich, in Tichvin bei St. Petersburg, bereits vor 20 Jahren eine Fertigung von Wäsche aufgebaut, die mittlerweile vollstufig ab importiertem Garn produziert, in Russland unter der Marke Komazu vertrieben wird und u. a. Thermowäsche für das russische Militär herstellt. Modefirmen, wie Marc Cain, Roy-Robson, Bugatti & Co., kommentieren ihre ständige „Rastlosigkeit“ und das Investieren in Lieferketten als Erfolgsrezept. Roy-Robson-Chef Westermann ist „den ganzen Balkan entlang gezogen auf der Suche nach günstigeren Produzenten“.

Bei allen grundsätzlichen Vorteilen, wie der räumlichen Nähe zu den westeuropäischen Absatzmärkten, kürzeren Lieferzeiten und langfristig guten Geschäftsbeziehungen, sind die Standortvorteile in Osteuropa begrenzt. Auf längere Sicht werden die Lohnkosten höher als in den asiatischen Ländern, zudem entstehen höhere Kosten durch die Anpassung der neuen EU-Länder an EU-Standards. Weitere Nachteile sind die kleinteilige Unternehmensstruktur und die damit verbundene schwache Kapitalbasis und Finanzkraft. Hinzu kommt die mangelnde Verfügbarkeit von Vorprodukten als Negativfaktor gegenüber China. Strategieansätze für osteuropäische Unternehmen sollten die Verstärkung der Forschungs- und Entwicklungsbemühungen und die Konzentration auf Marktnischen sein. Beispiele für zukunftsorientierte Bemühungen gab es bereits in der Vergangenheit: z. B. Gründung des länderübergreifenden Netzwerks Euro Textil Region, das Projekt „Textile innovation environment in ACC“ (Envitex) und andere grenzüberschreitende Projekte, wie z. B. Inmatex und Incotex.

[Gisela Gozdzik]

Teil 1 lesen Sie hier