25.01.19 – Neue Serie 2019: Stars der Zukunft – Teil 1 — read English version

Es muss dringend etwas passieren!

 textile network wird sich in diesem Jahr schwerpunktmäßig mit dem Fachkräfte- und Nachwuchsmangel in der Textilindustrie beschäftigen. Worum geht es?

Ingeborg-Neumann.jpg

Zum Auftakt unserer Serie steht uns Ingeborg Neumann, Präsidentin des Gesamtverbandes textil+mode, im Exklusiv-Interview Rede und Antwort auf die Frage, die sehr viele Unternehmen derzeit beschäftigt: Was tun gegen den wachsenden Trend des Fachkräftemangels? © photothek/Kjer

 

Zum Auftakt unserer Serie steht uns Ingeborg Neumann, Präsidentin des Gesamtverbandes textil+mode, Rede und Antwort zu dem Thema, das derzeit sehr viele Unternehmen beschäftigt: Was tun gegen den wachsenden Trend des Fachkräftemangels?

textile network: Frau Neumann, wie schätzen Sie als Unternehmerin und Präsidentin des Gesamtverbandes den Bedarf nach Nachwuchskräften in der Branche ein?

Ingeborg Neumann: Sie haben mit Ihrem Schwerpunktthema auf jeden Fall voll ins Schwarze getroffen. Nicht nur bei uns in den Betrieben beschäftigt uns der Arbeitskräftemangel. Wir müssen das Thema auch politisch in den Fokus rücken, sonst verliert Deutschland seine Zukunftsfähigkeit. Deshalb haben wir zu unserer Jahrestagung nach Berlin auch die Spitzen der Regierungsparteien eingeladen, um der Politik aus erster Hand die Situation auf dem Arbeitsmarkt für uns Mittelständler zu schildern.

textile network: Ist das Thema politisch denn da, wo Sie es gerne hätten?

Ingeborg Neumann: Nein, auf keinen Fall. Deshalb bleiben wir ja auch am Ball. Es kann nicht sein, dass wir in der Textilindustrie mit großen Kraftanstrengungen Jahr für Jahr wieder Beschäftigung aufbauen – von 132.000 vor fünf Jahren auf jetzt rund 135.000 Beschäftigte – und wir anschließend die Stellen nicht besetzen können. Hier muss dringend etwas passieren.

textile network: Wo ist der Nachwuchsmangel denn besonders groß?

Ingeborg Neumann: Das geht quer durch alle Bereiche. Das liegt aber auch daran, dass immer mehr Jugendliche Abitur machen. Dabei hat unsere Industrie auch spannende Ausbildungsberufe anzubieten, für die ein Hauptschulabschluss oder die mittlere Reife völlig ausreichen. Vielen Jugendlichen ist gar nicht bewusst, wie vielfältig die Ausbildungslandschaft in Deutschland ist. Nach ihrem Abschluss haben die Jugendlichen bei uns sehr gute Übernahmemöglichkeiten. Nach einer Umfrage unter unserer Mitgliedschaft im Gesamtverband von textil+mode haben junge Frauen und Männer, die beispielsweise Maschinen- und Anlagenführer, Produktionsmechaniker, Produktveredler oder Produktprüfer lernen, sehr gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

textile network: Die 1.400 Unternehmen der Branche sind ja fast alle Mittelständler. Wir groß ist denn die Bereitschaft, überhaupt auszubilden?

Ingeborg Neumann: Das Interesse ist sehr groß. Unsere Unternehmen bilden im Schnitt rund 2.300 junge Menschen pro Jahr aus. Unsere Ausbilder in unseren Betrieben sind hier mit sehr viel Engagement bei der Sache. Und unsere Unternehmer identifizieren sich mit ihren textilen Ausbildungsstätten vor Ort, ob Berufsschulen oder Hochschulen mit Schwerpunkt Textil. Ob Sie nach Münchberg in Oberfranken schauen, auf die schwäbische Alb nach Reutlingen oder schauen Sie sich die neue Textilakademie in Mönchengladbach an oder auch die Motivation im sächsischen Plauen, die Ausbildung auf den neusten digitalen Stand zu bringen. Unsere Unternehmen sind hier sehr engagiert.

textile network: Wie ist das in Ihrem Unternehmen, bilden Sie aus?

Ingeborg Neumann: Wir sind unter anderem mit zwei Standorten in Sachsen zuhause. Dort entwickeln, produzieren und veredeln wir hochwertige, innovative Textilien für die Bereiche Mode, Heimtextilien und technische Textilien. In all diesen Bereichen ist unser Bedarf an Fachkräften hoch. Wir bilden unter anderem Maschinen- und Anlagenführer aus, Produktionsmechaniker und Textillaboranten. Die Peppermint-Gruppe hat das neue Ausbildungsjahr in Sachsen mit 19 Auszubildenden begonnen, das sind doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Dabei kommen die Auszubildenden aus sieben verschiedenen Ländern, darunter auch Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan.

textile network: Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an, die Internationalität. Wie sieht es mit Fachkräften aus dem EU-Ausland aus – ist das eine Option?

Ingeborg Neumann: Auf jeden Fall. In manchen Regionen haben wir nicht nur einen Fachkräftemangel. Es fehlen auch ungelernte Arbeitskräfte. Wir können faktisch unsere Aufträge nicht mehr erledigen, wenn der Arbeitsmarkt leer gefegt ist. Deshalb stellen wir uns der Situation. Als globale Branche mit über 40 Prozent Exportanteil müssen wir uns auch in unseren Betrieben international und vielfältig aufstellen. Nur dann werden wir gestärkt in die Zukunft gehen, das ist meine tiefe Überzeugung. Wir sind hier als Gesamtverband textil+mode gemeinsam mit unseren Landesverbänden in einem engen Austausch mit der Bundesagentur für Arbeit. Wir unterstützen die Unternehmen dabei, ausländische Fachkräfte zu rekrutieren: Die Unternehmen können uns mitteilen, welche Stellen noch frei sind und welche Qualifikationen dafür notwendig sind. Dann schauen wir gemeinsam mit der Bundesagentur, wo Fachkräfte aus dem EU-Ausland angeworben werden können.

textile network: Welche Unterstützung oder Fördermöglichkeiten stehen den Betrieben dazu zur Verfügung?

Ingeborg Neumann: Da ist inzwischen ein ziemliches Dickicht von Angeboten entstanden. Wir können den Bildungsträgern nur den Rat geben, die Angebote einfacher und niederschwelliger zu organisieren. Deshalb unterstützen wir die Unternehmen über unsere Mitgliedsverbände, die die ersten Ansprechpartner für die Betriebe sind, Wir können zumindest einen Weg durch die zahlreichen Angebote der Bundesagentur für Arbeit sowie der regionalen Bildungswerke weisen. Hier gibt es eine ganze Auswahl von Kooperationen, Partnerschaften und Beratungsangeboten, auch finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten – für Unternehmen genauso wie für die Fachkräfte, aber auch für Auszubildende.

textile network: Inwieweit entsprechen die bisherigen Ausbildungsberufe noch den tatsächlichen Anforderungen, die in den Unternehmen gebraucht werden?

Ingeborg Neumann: Hier sind wir mit unseren Ausbildungsberufen in der Industrie ganz gut aufgestellt. Es ist völlig klar, dass sie die Inhalte immer wieder an die technischen Entwicklungen und Möglichkeiten anpassen müssen. So haben wir seit diesem Jahr einen neuen Ausbildungsberuf dazu bekommen, der der Entwicklung Rechnung trägt, dass immer mehr online verkauft wird: den Kaufmann für E-Commerce. Was unser Berufsbild des Maschinen- und Anlagenführers angeht, so ist dies kürzlich vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) im Zuge eines Industrie 4.0-Projekts unter die Lupe genommen worden. Trotz der rasanten Entwicklung in der Digitalisierung hat sich herausgestellt, dass sich der Beruf selbst im Kern nicht ändern wird. Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass wir in Zukunft durch die Digitalisierung voraussichtlich sogar mehr Maschinen- und Anlagenführer brauchen werden.

textile network: Inwieweit werden Innovationen wie Digitalisierung bis hin zu KI unsere Berufswelt verändern und welchen Einfluss wird dies auf die Berufsausbildung nehmen?

Ingeborg Neumann: Der Textilindustrie stehen sehr spannende Zeiten bevor. Die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz werden neue Potenziale erschließen, die durch Individualisierung, Stichwort Losgröße 1, und durch kluge Vernetzung vom Design über die Produktion bis zum Vertrieb ganz neue Geschäftsmodelle hervorbringen werden. Wir sehen an dem großen Interesse, das unsere Mitglieder an unserem Kompetenzzentrum „Textil vernetzt“ haben, welche Fahrt die Digitalisierung im Mittelstand aufgenommen hat. Wir dürfen uns jetzt aber nicht dazu hinreißen lassen, vorschnell alle Ausbildungsberufe der Textil- und Bekleidungsindustrie über Nacht umzukrempeln. Die Ausbildungsinhalte haben sich bewährt. Sie müssen jetzt Schritt für Schritt an den Wandel angepasst werden. Am Ende des Tages müssen die Anforderungen immer realitätsnah und praktikabel sein – ausgerichtet am Unternehmensalltag – auch für unsere kleinen und mittelständischen Unternehmen.

textile network: Was meinen Sie mit bewährten Ausbildungsstrukturen?

Ingeborg Neumann: Nehmen wir den Textil- und Modenäher, einen zweijährigen Ausbildungsberuf. Die Gewerkschaften wollen die zweijährigen Ausbildungsberufe am liebsten generell abschaffen und durch dreijährige Ausbildungen ersetzen. Das ist aber der falsche Weg. Unsere Unternehmen brauchen junge Menschen, die eine Ausbildung abschließen und einsatzbereit sind. In der textilen Ausbildung, wo wir nun einmal auch Auszubildende mit Hauptschulabschluss haben, hat sich diese zweijährige Ausbildung bewährt. Jede Änderung wäre völlig realitätsfern und geht an den Bedürfnissen unserer Unternehmen vorbei.

textile network: Wo können sich Schüler und Hochschulanwärter über Ausbildungsplätze in der Textil- und Bekleidungsindustrie informieren?

Ingeborg Neumann: Ich kann allen Jugendlichen und auch Eltern und Lehrern nur unseren Internetauftritt von Go Textile! (www.go-textile.de) empfehlen. Dort finden Sie alles über die Ausbildungsmöglichkeiten in unserer Branche und ganz konkret rund 300 Unternehmen und Ausbildungsstätten, die sich mit ihren Angeboten quer durch die Bundesrepublik vorstellen. Wer es noch lebendiger möchte, kann sechs junge Menschen live über Social Media folgen, die bereits in der textilen Welt in Ausbildung sind. Sie erzählen uns über die Erfahrungen und Geschichten aus ihrem Ausbildungsalltag.

Da uns Ihre Serie 2019 über Stars der Zukunft zu berichten, sehr inspiriert hat, haben wir anlässlich der ersten Ausgabe Ihres Heftes in diesem Jahr eine neue Filmreihe frei geschaltet. Darin erzählen unsere jungen Social Media-Botschafter sehr anschaulich, wie digital die textile Welt 2019 bereits ist. Reinschauen lohnt sich! Unsere Auszubildenden haben da ganz besondere Videos unter der Überschrift „Go Digital, so what!?“ produziert und machen, wie ich finde, dem Namen „Stars der Zukunft“ alle Ehre!

Vielen Dank, Frau Neumann, für das Gespräch.

Die Fragen für textile network stellte Iris Schlomski.