27.08.15 — read English version
„Go East“?
Steigende Lohnkosten und der Preisdruck durch die Liberalisierung des Welthandels zwingen vor allem westeuropäische Bekleidungsunternehmen, ihre eigentliche Produktion oder arbeitsintensive Prozesse immer weiter ostwärts zu verlagern. Eine Situationsanalyse von der Oder bis zum Ural: Russland
Rund 90 Prozent des russischen Marktes werden durch ausländische Hersteller kontrolliert. Lt. Einschätzung der Messe Frankfurt in Moskau hat sich in den letzten fünf Jahren nicht viel geändert; eine Unterstützung der russischen Textil- und Bekleidungsindustrie in Form von modernem Maschinenbau, Design, günstigen Kreditbedingungen, niedrigeren Leasingraten usw. kommt nicht in Gang. Textilien wurden nicht in die Programme für Importsubstitutionen aufgenommen, da die Textilindustrie lt. Wirtschaftsexperten nicht vorrangig ist und auch die meisten Industrieländer textile Waren importieren: „China näht für die ganze Welt und Russland ist nicht der einzige, der Bekleidung von dort importiert“.
Der Generalmanager der „Infoline-analitika“-Agentur, Michail Burmistrov schätzt ein: „Die Arbeitskosten in Russland sind hoch, ein Hindernis für die Industrie. Auch wenn die meisten Textilhersteller in Regionen beheimatet sind, wo die Löhne niedrig sind, die textilen Produktionskosten in Russland sind zu hoch verglichen mit China, der Türkei oder sogar der Ukraine, was die Effektivität vermindert.“
Lt. offiziellen Statistiken beträgt der textile Handel von Russland mit China 17 Billionen USD, der Rest gehört der Türkei, Vietnam und anderen. Textilien „Made in Russia“ haben im Land selbst gerade einmal einen Anteil von derzeit 25 bis 35 Prozent am Markt.
Die europäischen Bekleidungsexporte nach Russland in den letzten 5 Jahren sind bis 2013 gewachsen, und ab 2014 gesunken (ca. 15 %). Das resümiert Reinhard E. Döpfer, Vorsitzender European Fashion & Textile Export Council. Er fasst zusammen: „Wir machen nicht den fallenden Rubel und die durch die westlichen Sanktionen unvorteilhaften Bezahlungskonditionen verantwortlich für den Rückgang der Exporte, sondern auch die Auswirkungen der strukturellen Änderungen im russischen Einzelhandel einschließlich substantieller Änderungen in der Nachfrage nach Bekleidung. Der russische Markt ist gigantisch. Spätestens für 2017 wird eine neue Wachstumsphase prognostiziert mit moderaten Wachstumsraten.“
Bereits seit 9 Jahren ist die Firma Modee aus Stollberg in Sachsen Aussteller auf der CPM und kann auf gewachsene Kundenbeziehungen blicken. Mit der Herbstkollektion 2014 kam auch hier der Einbruch; Der von Frühjahr bis Herbst 2014 um teilweise mehr als 100 Prozent gefallene Rubel und die wirtschaftliche Lage im Land sorgten für Einkaufsstopp, der Abverkauf in den letzten 9 bis 12 Monaten war teilweise schwierig in den Shops, der Export des Unternehmens nach Russland ging um mehr als 50 Prozent zurück. Thomas Häusler, Geschäftsführer des Unternehmens ist jedoch optimistisch: „Wir bereiten gegenwärtig die nächste CPM vor. Unsere russischen Kunden liegen uns sehr am Herzen und wir kommen ihnen mit Rubelkonten und Rabatten entgegen.“
Die Standorte in den wichtigen Textilregionen Russlands im westlichen Teil des Landes, in den Zentren Iwanowo, Jaoroslawl und Kostroma, mit ehemals Leinen- und Baumwollspinnereien sowie Webereien mussten sich in den zurück liegenden 20 Jahren von einer diversifizierten Textilherstellung verabschieden. Die Zeitschrift Wirtschaftswoche berichtete im März 2015 über die ehemalige Textilhochburg Iwanowo, wo die letzten der gut 50 Jahre alten grünen Spinnmaschinen, die zu Sowjetzeiten den Ruf der Stadt Iwanowo als russisches Manchester begründeten, auf die Verschrottung warten.
An ihnen fertigten die einst bis zu 7.000 Mitarbeiter des Textilherstellers Schujskije Sitzy Bettwäsche und Tischdecken. Die nordöstlich von Moskau gelegene Stadt wurde Ende des 18. Jahrhunderts zur Textilhochburg: Damals hatte Zarin Katharina II. den Stofffabrikanten Steuern erlassen, um für verarmte Bauern Arbeit zu schaffen. Statt derer kamen Näherinnen aus dem ganzen Zarenreich, die Iwanowo bis weit in die Sowjetzeit hinein zur „Stadt der Bräute“ machte.
Heute arbeiten im Textilzentrum Schujskije Sitzy High-Tech-Spinnmaschinen des Weltmarktführers Trützschler aus Mönchengladbach vollautomatisch rund um die Uhr. Das Unternehmen könnte zum Gewinner der Krise werden, wären da nicht auch Hemmnisse: Der fallende Rubel verteuert zugleich Rohstoffe und Zulieferteile aus dem Ausland. Und die westlichen Sanktionen machen die Finanzierung von neuen Investitionen praktisch unmöglich.
Einer der wenigen erfolgreichen Exporteure, Wasili Guschtschin, Geschäftsführer bei Ivregion Synthes, einem der größten Textilhersteller der Region und Lieferant von Ikea, schätzt ein, dass der teurere Import von Baumwolle, die er aus Zentralasien kauft und in Dollar abrechnet, den Währungseffekt teilweise auffresse. Zudem seien Farben und Chemikalien teuer geworden.
Guschtschin kann über das politische Zauberwort „Import-Substitution“, das für den Trotz der stolzen Russen gegenüber den westlichen Sanktionen stehen soll, nur müde lächeln: „Das Finanzsystem ist im Moment nicht in der Lage, schnell das Kapital für nötige Investitionen bereitzustellen.“ Egal, ob man in Vorprodukte, Kapazitäten oder Prozesse zur Qualitätssteigerung investieren muss – der Kreditmarkt ist auch für größere Hersteller wie verriegelt.
Ähnlich die Situation im Maschinenbau: Die Absatzmöglichkeiten für den deutschen Maschinen- und Anlagenbau setzen sich 2015 in der Abwärtsspirale fort. Im ersten Quartal 2015 sind die Maschinenexporte nach Russland um weitere gut 28 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken. Russische Maschinenbaukunden melden zwar einen ungebrochen hohen Bedarf an, können aber nur wenig ordern. Deutsche Lieferungen bleiben in verschiedenen Sparten jedoch alternativlos. Daher gibt es durchaus Chancen für deutsche Anbieter.
Schwierigkeiten gibt es auch bei der Finanzierung für den Export von Maschinen und Anlagen nach Russland, westliche Banken sind bei Russlandgeschäften sehr zögerlich geworden. In den Maschinenbauunternehmen wächst die Sorge, den russischen Markt an die Konkurrenz aus China dauerhaft zu verlieren. In den vergangenen zehn Jahren haben chinesische Unternehmen den deutschen Maschinenbauern bereits 10 Prozent Marktanteil abnehmen können. Aufgeben oder gar flüchten wollen die deutschen Maschinenbauer aber keineswegs.
Gute Chancen für russische Fertigungsstandorte sehen Experten im Militärbereich. Die Produktion von Uniformen, Militärbekleidung in jeglicher Form wird staatlich gefördert und auch von den Banken unterstützt. Voraussichtlich 2016 wird es auch ein Programm für Herstellung/ Vertrieb von Schuluniformen geben.
Die BTK Group, einer der größten russischen Herrenbekleidungs- und Uniformhersteller, investiert mehr als 30 Mill. US-Dollar in den Bau eines Unternehmens für die Produktion von synthetischen Stoffen und Bekleidung in Shakhty (Don-Region). Das Problem der oftmals fehlenden Fachkräfte kann in der Don-Region mit ukrainischen Flüchtlingen gelöst werden.
Für Russlands Textilindustrie werden zweistellige Bedarfssteigerungen in Richtung synthetische Fasern und technische Textilien eingeschätzt. Dem entgegen steht das kürzlich verhängte Importverbot für Maschinen.
Bisher ist Russland in großem Maße abhängig von Importen für technisches Equipment, Stoffe und auch Fasern. Der Markt für technische Textilien ist immer noch beherrscht von ausländischen Unternehmen. Stoffe und Fasern kommen aus den asiatischen Ländern China, Südkorea oder auch der Türkei. Nach einer Statistik des Ministeriums für Handel und Industrie und Analysen der BTK Group beträgt das Importvolumen 82 Prozent bei synthetischen Stoffen, 56 Prozent bei Vliesstoffen, 65 Prozent bei Polyesterfasern und 48 Prozent bei anderen Chemiefasern. Die Regierung will den Anteil einheimischer Produktion bei technischen Textilien bis 2020 auf ehrgeizige 80 Prozent steigern. Kohlenwasserstoffe als Rohstoff zur Kunstfaserherstellung sind auf dem heimischen Markt in ausreichender Menge verfügbar.
Ein Beispiel-Projekt ist Baltex, ein führendes russisches Unternehmen für technische Textilien und Vliesstoffe, das 200 Mill. US-Dollar in die Ausweitung der Polyamidfaser- und Stoffproduktion in den nächsten Jahren investiert. In Iwanovo ist ein Zentrum der Chemiefaserproduktion und für technische Textilien geplant. Damit könnte der Standort, der sich seither auf Heimtextilien sowie Textilien für medizinische Zwecke konzentrierte, wieder belebt werden. Ähnliche Projekte sind in der Freihandelszone Elabuga und in Karbadino-Balkarien vorgesehen. Auch Manager Guschtschin plant den Bau einer Fabrik für synthetische Textilien, die umgerechnet mehr als 200 Millionen Euro kosten soll.
Künftig will er z. B. effiziente Dämmstoffe herstellen und feuerabweisende Materialien für Arbeiter von Bohrinseln. „Technische Textilien bieten uns ein riesiges Potenzial, das auch das Überleben des klassischen Segments der Heimtextilien sichert“, verspricht der Manager, der auch Vize-Präsident der Union der Textilunternehmer und der Leichtindustrie ist. Von seinen 1.000 Mitarbeitern in der Produktion hat er bislang noch niemanden entlassen müssen: Die seien nicht leicht zu ersetzen. Noch hofft er darauf, dass sich die Gesamtlage entspannt, befürchtet aber: „Ein positives Szenario wird es für 2015 nicht geben.“
[Gisela Gozdzik]
[ www.gtai.de]
[ www.vdma.org]
[ www.wiwo.de]
[ www.innovationintextiles.com]
Die Techtextil Russia, eine international führende Fachmesse für technische Textilien und Vliesstoffe, zeigt von der Forschung und Entwicklung über die verschiedenen Materialien, Produktion, Weiterverarbeitung und zum Recycling das ganze Spektrum und das Know-how der Branche sowie die Anwendungsmöglichkeiten der technischen Textilien und Vliesstoffe. Ergänzt wird die Messe durch das Techtextil Russia Symposium, das zahlreiche Seminare und Workshops zu den neuesten Branchenthemen beinhaltet. Die Techtextil Russia 2014 in Moskau fand vom11. bis 13. März statt.