30.04.20 – Drive the Change – Luft — read English version

Data is in the air

Schrei‘ vor Glück! Oder schick’s zurück. Damit wurde Zalando als europäischer Pionier im E-Commerce bekannt und setzte neue Servicestandards.

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Sieht so die Zukunft der Mode aus? Das Kleid „Iridescence” von The Fabricant existiert nur in der digitalen Welt. © The Fabricant

 

Shoppen, ohne das Haus zu verlassen, wird immer selbstverständlicher. Im Online-Handel mit Kleidung und Schuhen setzten Unternehmen in Deutschland im vergangenen Jahr insgesamt fast 19 Mrd. Euro um – 11 Prozent mehr als im Vorjahr. Im globalen Vergleich haben die DACH-Länder die vollsten digitalen Warenkörbe, Deutschland aber auch europaweit die meisten Rücksendungen. „Schrei‘ vor Glück! Oder schick’s zurück.“ – mit diesem Slogan wurde Zalando als europäischer Pionier im E-Commerce bekannt. Mit kostenloser Lieferung und bis zu 100 Tagen Rückgaberecht setzte das deutsche Unternehmen neue Servicestandards. Der Werbeclaim ist mittlerweile ein anderer, doch die Vision bleibt gleich: Den Modemarkt weiterdenken und die Potentiale der vierten industriellen Revolution nutzen. Gemeinsam mit anderen Visionären der Branche gestalten sie die digitale Zukunft der Modebranche.

Return Reloaded

Die traurige Wahrheit: Die Hälfte aller Zalando-Lieferungen wird wieder zurück geschickt. Betrachtet man die Online-Bekleidungskäufe in ganz Deutschland werden pro Tag etwa 800.000 Pakete retourniert. 400 t CO2 entstehen so täglich, was 255 Autofahrten von Frankfurt nach Peking entspricht . Um die Umweltauswirkungen ihrer Lieferungen zu minimieren, testete Zalando Ende 2019 in Zusammenarbeit mit dem finnischen Start-Up Repack die Verwendung wiederverwendbarer Versandtaschen. Durch die Verlängerung des Lebenszyklus kann der CO2-Ausstoß um bis zu 80 Prozent reduziert werden. Doch um das Konzept skalierbar zu machen, braucht es die gesamte E-Commerce-Branche. „Durch Mehrwegverpackungen wird das Material von Abfall zu Wertstoff. Ein einheitliches System, bei dem Kunden die Verpackung nicht zurückschicken, sondern beispielsweise im Supermarkt abgegeben können, würde die Veränderung für alle erleichtern“, sagt Uwe Streiber, Team Warehouse Consumables bei Zalando.

Bis es soweit ist, geht Zalando die Ursache des Problems an: „Ein Drittel der Artikel wird wegen der Größe zurückgeschickt“, sagt Stacia Carr, Director of Engineering – Dedicated Owner Sizing bei Zalando. Auch hier können die neuen Technologien, die E-Commerce erst möglich machten, helfen. Online-Shops versuchen dem Größenproblem bereits mit detaillierten Produktinformationen, Live-Chats und umfangreichem Bild- und Videomaterial entgegenzuwirken. „Die Virtualisierung bietet uns die Möglichkeit, Kunden durch einen neuen Kaufprozess zu führen. So können sie sehen, wie ein Artikel zu einem Körper wie ihrem passt, bevor sie auf den Kaufknopf klicken“, sagt Carr auf der Bühne der internationalen Konferenz Fashionsustain auf der nachhaltigen Modemesse Neonyt. Im Panel „Virtually fashionable – and sustainable?“ diskutierte sie mit anderen Branchenexperten, welche Möglichkeiten die Digitalisierung für eine umweltschonendere Modebranche bietet. Gesichtserkennungstest, zweidimensionale Bildverarbeitung, 3D-Bodyscans: Mit verschiedenen Verfahren testete das Unternehmen in den letzten zwei Jahren, wie die 31 Mio. Kunden dem Unternehmen ihre Körpermaße mitteilen könnten, ohne selbst das Maßband anzulegen. Die Ergebnisse stimmten bis zu 97 Prozent mit denen professioneller Schneider überein. „Wenn wir Verbrauchern plötzlich eine schnelle und einfache Möglichkeit bieten können, Körpermaße zu kommunizieren, ändert sich alles“, so Carr.

The netx step in e-commerce

Auch Dr. Andreas Seidl, geschäftsführender Gesellschafter der Human Solutions Gruppe, war Teil des Expertenpanels. An Lösungen, um die Passformprognose beim Online-Shopping zu verbessern, arbeiten die Human Solutions Tochterunternehmen Assyst und Avalution in einem bis Juli 2020 angesetzten Forschungsprojekt. Basis der Software-Lösung ist Avalutions weltweit größte Datenbank an menschlichen Bodyscans. Nur vier einfache Angaben muss der Kunde machen und schon kann das Programm ihm einen statistischen Avatar zuordnen, mit welchem er die digitale Anprobe vornehmen kann. Die Nachhaltigkeitsbewertung des Projektes erfolgt durch das DITF Denkendorf. Vor Abschluss der Bestellung wird dem Kunden anzeigt, wie sich sein Bestellverhalten auf die Umwelt auswirkt. So soll der Verbraucher auf einen Blick sehen, dass beispielsweise das Bestellen mehrerer Größen zur Auswahl und die notwendige Retoure deutlich belastender sind. „Wir wollen für die Kunden in Online-Shops ein völlig neues Einkaufserlebnis schaffen: Der Kunde findet schneller das richtige Produkt, das ihm auch passt. Gleichzeitig wird der Aufwand rund um das Zurücksenden von Ware reduziert und eine Entlastung der Umwelt herbeigeführt – eine wichtige Weiterentwicklung für das E-Commerce“, so Michael Stöhr, Director Business Unit Management Systems der Human Solutions Gruppe. Unternehmen wie Zalando, Adidas und Vaude arbeiten mit den Software-Angeboten von Assyst. Für den visionären Prozess 3D über den gesamten Entstehungs- und Verkaufsprozess eines Kleidungsstücks einzusetzen, erhielt das Unternehmen 2019 den Texprocess Innovation Award.

Digital Fashion on Demand

„Sind die Produkte, die wir produzieren, die richtigen? Wir wissen nicht, was unsere Kunden in zwölf Monaten wollen – das ist unser Problem. Das Ziel ist es, wirklich die Dinge herzustellen, die der Kunde braucht; mehr auf Nachfrage zu produzieren”, sagt Dr. Andreas Seidl. Lösungen im Sinne der intelligenten und vernetzen Fertigung stellte der Neonyt-Showcase-Aussteller Lectra mit Fashion-on-Demand vor (textile network berichtete). Doch was ist, wenn das gewünschte Kleidungsstück nie wirklich produziert werden muss? „Wir sind die nachhaltigste Modemarke der Welt – weil wir überhaupt keine physische Kleidung herstellen”, sagt Kerry Murphy, Gründer des digitalen Modehauses The Fabricant. „Wir verschwenden nichts außer Daten und nutzen nichts aus außer unserer Vorstellungkraft“, steht auf der Homepage des niederländischen Start-Ups. Das Digital-Only-Konzept des Unternehmens wirkt wie ein Blick in die Zukunft: Auf ihrer Website stellt es verschiedene Outfits zum Download zur Verfügung – komplett kostenlos. Im nächsten Schritt können die Kleidungsstücke einem digitalen Avatar angezogen und die animierten Videos in den sozialen Netzwerken gepostet werden.

Was das soll?

Es geht in erster Linie darum, kreativ zu sein, zu entwerfen und Menschen die entworfene Mode zu zeigen, ohne dabei Ressourcen zu verschwenden. Denn inzwischen kaufen sich z. B. viele Influencer neueste Kleidungsstücke, tragen diese einmal für ein Bild und dann eben nie wieder. Virtuelle Kleider können indessen geteilt werden und man erhält die Bestätigung seiner Peer-Group, ohne dabei unnötig Ressourcen zu verschwenden. Die Vision dahinter ist es, dass nur Teile, die dann wirklich so gut gefallen, dass man sie haben und tragen möchte, dann „on demand“ gekauft wird – Kunden viel bewusster ihre physische Kleidung auswählen, die dann wiederum langlebiger getragen werden und entsprechend in guter Qualität hergestellt werden.

Und ist ein digitales z. B. T-Shirt per se bereits nachhaltiger? Ja, denn gemeinsam mit dem Fashion-For-Good-Accelerator untersuchte The Fabricant die Umweltauswirkungen: Die Produktion des digitalen Kleidungsstücks hat einen zehnmal kleineren CO2-Fußabdruck als das reale Pendant.

Die digitale Modeindustrie ist bereits näher als wir allgemein so denken!

Dass diese Zukunftsvision einer digitalen Modeindustrie schon näher ist als wir denken, zeigt z. B. das Onlinespiel Fortnite. 1 Mio. Dollar am Tag verdient das Unternehmen durch den In-Game-Shop des kostenlosen Videospiels; fast 60 Prozent der getätigten Einkäufe sind Outfits für die virtuelle Identität. Eine Entwicklung, die sich auch auf Instagram- und LinkedIn-Kanäle ausbreiten könnte. „Das ist das fehlende Glied: Solange wir kein Paket losschicken, können die Leute nichts anprobieren, kein Outfit teilen und nicht darin bestätigt werden”, so Stacia Carr auf dem Fashionsustain-Panel im Januar. „Ich hoffe, dass sich durch die Möglichkeit, Mode virtuell zu erleben, das, was wir in der physischen Welt kaufen, ändert. Dass wir Dinge, die langlebig sind, mehr schätzen und Mode, die nur digital wegwerfbar ist, wieder spielerisch wird.“

Lena M. Kaufmann