17.04.20 – Mut machen trotz düsteren Zeiten – Folge 4
Corona-Krise: Originär deutsche Lieferkette für FFP2-Halbmasken
Prof. Dr. Yves-Simon Gloy, Gherzi, Berlin: Fight-Covid 19 hat die europäische Perspektive im Blick.
Importbedingter Maskennotstand in Kliniken und Gesundheitseinrichtungen
Die Reaktion auf den importbedingten Maskennotstand kam in Form einer binnen Wochen Gestalt annehmender Konzeptidee zum Aufbau einer originär deutschen Lieferkette zur Produktion von FFP2- und damit für medizinische Zwecke anwendbaren Atemschutzmasken. Deren Autoren sind Experten, die in der Textilwelt einen Namen haben.
textile network stellte fünf Fragen an den Koordinator, Prof. Dr. Yves-Simon Gloy, Berater bei Gherzi van Delden.
textile network: Was für eine Herausforderung: Deutschland hat eines der weltbesten Gesundheitssysteme, hinkt aber bei der nationalen Notfallversorgung mit filtrierenden Halbmasken zum Selbstschutz für Mitarbeiter im Gesundheitswesen hinterher ...
Prof. Dr. Yves-Simon Gloy: Darauf zu sagen „Das geht gar nicht“ wäre zwar richtig, aber für zukünftige Pandemien wenig hilfreich. Deswegen haben sich Vlies-, Bandagen- und Anlagenhersteller mit Textilforschern und Projektmanagern verbündet und sich einen großen Rucksack umgeschnallt. Ziel unseres Konsortiums Fight ist der ad hoc-Aufbau einer zunächst komplett deutschen Lieferkette mit eindeutig europäischer Perspektive.
Wir wollen das auch jetzt bei der Politik zu konstatierende hilflose Schulterzucken auf die Tatsache, dass es bundesweit zu wenige Vliesstoffhersteller und mit Blick auf Schutztextilien wohl auch zu geringe Anlagenkapazitäten gibt, so schnell wie möglich beenden – wohlgemerkt mit Taten nach engem Zeitplan.
Bereits Anfang April wurde die Produktion von Atemschutzmasken, die durch ihre Filterwirkung Viren zu 95 Prozent abwehren können, mit 40.000 Masken pro Woche gestartet.
textile network: Welche Akteure sind mit im Boot?
Prof. Dr. Yves-Simon Gloy: Sporlastic (Nürtingen) fungiert als Produktentwickler und Inverkehrbringer, die RKW Group in Gronau liefert das erforderlich Spinnvlies, Reifenhäuser Reicofil aus Troisdorf die spezifizierten Anlagen und das antivirale Meltblown-Material. Das Sächsische Textilforschungsinstitut Chemnitz hat uns bei der richtigen Auslegung und Gestaltung der Vliesstoffe unterstützt. Das Institut für Textiltechnik Aachen (ITA) bringt die wissenschaftliche Expertise für zwei ganz wichtige Forschungsansätze mit: das langfristige Betreibermodell im Sinne einer nationalen Notfallreserve und das Know-how für Forschung und Entwicklung durch das geplante Kompetenzzentrum Vliesstoffe. Wir von Gherzi kümmern uns um das Projekt- und Netzwerkmanagement sowie die Beschaffung; die Dekra übernimmt die die Zertifizierung und Zulassung. Für die Maskenproduktion selbst haben wir eine Fertigungskette an zunächst über 30 Standorten quer durch Deutschland aufgebaut und unter Vertrag genommen; weitere Nähereien werden gesucht. Sobald wir mit Fight aus der Warmlaufphase herauskommen und es um weitaus größere Stückzahlen geht, könnten dann auch in Portugal auf dem Wege der Lohnveredlung bis zu eine Millionen Masken pro Woche genäht werden.
textile network: Ein Blick auf Ihr Konzeptpapier lässt Vision und Umsetzungsgeschwindigkeit erkennen. Welche Herausforderungen sind dabei zu meistern?
Prof. Dr. Yves-Simon Gloy: Mit Stand Mitte April liegt die Wochenproduktion erst bei 100.000 Masken. Inzwischen haben wir Tonnen von Material geordert und das zum Teil schon verarbeitet. Langfristiges Ziel sind jedoch eine dreiviertel Million Halbmasken am Tag, also weit über 4 Mio. pro Woche.
Die FFP2-Maskenproduktion hat neben der Zulassungsproblematik drei Herausforderungen: geeignetes Material in Qualität, Timing und Volumen, die eigentliche Fertigung in hohen Stückzahlen und die Koordination im Netzwerk inklusive Abwicklung und Distribution.
Apropos Zulassung: Dabei und in anderer Beziehung hat uns das Land Baden-Württemberg zeitnah unterstützt; die Masken wurden als PSA nach derzeit gültigen Verfahren zugelassen.
textile network: Woie sah die Unterstützung zudem noch aus?
Prof. Dr. Yves-Simon Gloy: Die Stuttgarter Landesregierung war die erste, die eine konkrete Abnahmezusage von zunächst 290.000 Masken gegeben hat; über eine weiterführende Abnahme in größerem Maße wurde bereits verhandelt. Was in Baden-Württemberg auf Landesebene gelang, steht für die anderen Bundesländern noch in den Sternen.
Lediglich mit Berlin und NRW gibt es aussichtsreiche Gespräche; mit den Städten Chemnitz und Aachen ebenso. Die anderen 13 Bundesländer, aber auch die für die Koordination von textilen Schutzartikeln eingerichtete Stabsstelle beim Bundeswirtschaftsminister haben bisher auf Anfragen zur Zusammenarbeit nicht reagiert. Eigentlich müssten sich die durch die Pandemiepläne des Bundes und der Länder vorgegebenen Behörden bzw. auch die EU um unsere Masken rangeln ... Man versteht an der Stelle die Welt nicht mehr – auch vor dem Hintergrund, dass der Spiegel kürzlich mit der Schlagzeile aufgemacht hat: „Wo bleiben die Masken?“ Wie soll es langfristig weitergehen?
Das Ganze wird nur dann rund, wenn das Konzept auf die Zeit nach der aktuellen Pandemie ausgerichtet ist und auf einem langfristigen Betreibermodell fußt. Wir wollen innerhalb der EU bzw. Deutschlands zur Produktionsstätte der nationalen Notfallreserve werden. Dazu müssen mit Investitionskraft Kapazitäten für eine automatisierte Produktion in hohen Stückzahlen aufgebaut werden, an denen in Nichtpandemiezeiten beispielweise Textilmaschinenbauer und -forscher dann Zugriff hätten. Auch muss in Deutschland dringend die Verfügbarkeit von antiviral wirkenden Meltblown-Vliesen zum Einsatz in Schutztextilien erhöhen.
Herr Prof. Dr. Gloy, vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen für textile network stellte Hans-Werner Oertel.
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