24.08.15 — read English version
Viel Kunst und Natur
Die Stoffe und Zutaten zur Modesaison Herbst/Winter 2016/2017 sind technik- und kunstaffin. Es sind kreative Höhenflüge mit Augenmaß, gemacht für eine Zeit, in der sich die deutsche Textilindustrie ungeachtet vieler Imponderabilien als wirtschaftlich stabil beweist.
Die Neuheiten versprechen eine gute Mischung aus kreativen Ideen und Kommerz. Diese kreative Ausgewogenheit passt zu der wirtschaftlich stabilen Entwicklung, die die deutsche Textilindustrie im bisherigen Jahresverlauf verzeichnet. Der deutsche Gesamtverband textil + mode geht davon aus, dass sich diese auch in den nächsten Monate „trotz bestehender Herausforderungen wie beispielsweise der Euro-Entwicklung und politischer Krisen in Osteuropa“ fortsetzt.
Entsprechend erwartet der deutsche Hersteller Knopf und Knopf International, Spezialist für Verschlusslösungen mit Blick auf die nächste Orderrunde „eine konstante Entwicklung“ verglichen mit dem Orderverlauf zum Sommer 2016. Die Geschäftsergebnisse in der ersten Jahreshälfte variieren allerdings je nach Knopfhersteller von „etwas hinter den Erwartungen zurückgeblieben“ bis hin zu „eine sehr erfolgreiche erste Jahreshälfte 2015“. Die Kahage GmbH hat beispielsweise ebenso wie die gesamte Butonia-Group nach eigenem Bekunden erneut ein „deutliches Wachstum“ verzeichnet.
Kopfzerbrechen bereitet den Unternehmen u.a. die DOB, die nach wie vor „verhalten“ Zutaten einsetze. Auch die zunehmende Geschwindigkeit bei den Produktionsprozessen samt der daraus folgenden Problematik der verkürzten Lieferzeiten fordern die Unternehmen heraus. Die permanente Prozessoptimierung gehört daher schon zum Tagesgeschäft. Hersteller wie Union Knopf profitieren von weltweit eigenen Produktionsstätten, weil sie mit kurzen Transportwegen den Kundenwünschen gerecht werden können.
In der Diskussion um „Anti-Fashion“ und „Inspirationskrise“ kommt es Joachim Baumgartner, Trendexperte der deutschen Textilmesse Munich Fabric Start, so vor, als würden sich die Modedesigner jetzt in die Provokation flüchten, nur um Neues zu produzieren. Die Stoff- und Zutatentrends zur Wintersaison 2016/2017 sind jedoch weiterhin von Technik- und Retrothemen beeinflusst. „Refuture“ überschreibt die Munich Fabric Start (01. bis 03.09.2015) die kommende Veranstaltung.
Der „Deformationsdrang“ der Mode, der mit dem Verfremden der Proportionen durch Überdimensionierung einhergeht, erfasst auch die Accessoires. „Der Trend geht zu großen Knöpfen“, heißt es u.a. beim deutschen Zutatenspezialisten Bodo Jagdberg. Unübersehbar sind die Inspirationen aus den 70er-Jahren, die rustikalen Naturthemen, der Postmodernismus, diverse Gothic-Stiles und eine Romantik zwischen Opulenz und Drama. Gebleichte Mitteltöne treten die Nachfolge von Pastelltönen an. Viel Schwarz ist unterwegs.
Die Natur und ihre vier Elemente bleiben eine der wichtigsten Inspirationsquellen. „Total Nature“ titelt die Munich Fabric Start. „Slow Winter“ heißt eins der Trendthemen der Pariser Textilmesse Première Vision Leather. Die Stoffe und Zutaten präsentieren sich kontemplativ-ruhig oder archaisch und rustikal, geprägt von Handwerklichem und dem Unperfekten. Holz, Leder, Steinnuss, Ziegenhorn (Union Knopf) und andere Naturmaterialien bleiben für Knöpfe und Schließen unverzichtbar und modernisieren sich u.a. über Farbe. Auf Stoffseite transportieren grober Strick, Lammfell, Antikleder, Salz-und-Pfeffer-Stoffe, noppige, flauschige und gepolsterte Oberflächen eine Anmutung von unruhig, vernebelt, schattiert, geädert oder rissig.
Drucke erinnern an vernebelte Landschaften, imitieren natürliche Strukturen oder sind unkonkret und entrückt. Bei Verschlüssen und Etiketten gehen organische Formen mit Oberflächen einher, die Rinden-, Borken- und Steinstrukturen aufgreifen. Metalle wirken auch mal rostig und lassen mehrere Farbschichten erahnen. Denim schwelgt u.a. in Green Cast- und Destroyed-Effekten. Raffinierte Mehrschichtmaterialien oder Verzierungen mit floralen Laser- und Mikro-Dessins (Union Knopf) tragen einen handwerklichen Charakter bis in die Menswear. Verwaschene, gepuderte, samtige und haarige Stoffoptiken kultivieren eine natürliche Ruhe in ruhigen Neutral-, Grau- und Weißtönen plus Eisblau. Diese Stimmung greifen Echt-Horn-Knöpfe oder Imitate auf, sind used, gebleicht, zart marmoriert oder fein schraffiert.
Sorgfältige Emaille-Veredelungen, Lackierungen oder ein samtiger Soft-Touch tragen ausgefeilte Farb- oder Glanzeffekte (Bodo Jagdberg) bis in die Menswear. Filze soften die Mode ebenso wie Dufflecoat-Verschlüsse (Stenger by Bodo Jagdberg). Grobe Karabiner-Haken überzeugen in Aged-Optik. Knopf und Knopf übersetzt sie in einen Materialmix aus Holz oder Leder mit Metall, auch mit schimmernder Beschichtung. Gleichzeitig bestätigt der niederländische Etikettenspezialist Van Engelen & Evers die steigende Nachfrage nach Bio-Materialien, nach chromfreiem Leder, recyceltem Polyester oder Nylon. Kaki, Braun, Graubraun, Off-White und Dunkelgrün ergänzen das neutrale Farbspektrum.
Viel Schwarz und geschwärzte Dunkelfarben in Kombination mit Blutrot, grünlich wirkendem Gold und Weiß befeuern die Gothic-Thematik. Die Munich Fabric Start vereint in dem Thema „Royal Gothic“ das romantisch-düstere Gothic-Flair mit royaler Klassik, Sexyness und sportiv- jungen „Health-Goth-Attituden“. Opulent wirken Kaskaden von Tüllbänder und -roben, Wappen- oder Posamentenknöpfe wie bei Knopf und Knopf. Hier erinnert so manches Metallaccessoire auch an glänzende Kettenhemde und Harnische. Metalloptiken bleiben grundsätzlich hochaktuell und werden in dunklem Stahl, Vintage-Messing, Kupfer, Schwarzkupfer (Butonia-Kahage) und Gold interpretiert.
Selbst Nahtbänder kommen mit Metallanmutung daher (Bodo Jagdberg). Auffälliger sind Metallketten unterschiedlichster Art. Mal als feinen Kugelketten, mit denen auch Lederetiketten verziert werden (Stenger by Bodo Jagdberg), mal als markantes Jeans-Accessoire in Altmessing oder als goldenes Schmuckelement zum Aufnähen. Nicht fehlen dürfen kleine Revers-Anstecker. Schwarze Schmuckknöpfe mit Jetsteinen, die zugleich mit fein ziselierten Rändern oder mit aufgelegten oder eingravierten Ornamenten betören, ergänzen Matt-Glanz-Jacquards, transparente Stoffe und schwere Satins. Graue Knöpfe in Zinn-Anmutung, deren schwarze Glasur stellenweise abgeblättert ist, transportieren einen morbiden Causal-Chic.
Ein bisschen Barock, ein bisschen Second-Hand-Spirit und viele Anleihen an die moderne Kunst provozieren oder berauschen. Accessoires werden zu Kunstwerken, wenn zum Beispiel Verschlüsse mit Stickereien, Lederschnüre und Tapisserie-Elementen spielen (Knopf und Knopf). Die abstrakten Farbszenarien eines Mondrian oder des Postmodernismus entladen sich in plakativen Druck- und Webmotiven. Dazu passen übergroße Druckknöpfe (Butonia-Kahage), die, aus sehr dünnem Blech hergestellt, trotzdem leicht sind. Zu den retromäßigen Boho-Einflüssen mit Bouclés, Tweeds und Sweat-Stoffen passen Knöpfe mit geflammter Steinnuss-Optik oder farbige Lederzierteile. Der Materialmix zieht sich bis in den Hosenbund. Topp Textil spielt mit gegensätzlichen und plastischen Oberflächen, kombiniert italienische Krawattenstoffe und Cloqués, natürliche und technisch-anmutende Qualitäten und lässt sich vom Bauhausstil, von Joseph Beuys und Ai Weiwei inspirieren. Für die jeansige Zutaten dienen mechanische Elemente wie Zahnräder als Inspirationsquelle.
Markante 3D-Strukturen entladen sich im Etikettenbereich zum Beispiel in plastische Konstruktionen aus hauchdünnem Organza oder Taft (Van Engelen & Evers). Trotz 70er-Jahre-Rausch „füttern“ Hightech-Fantasien und Utility-Chic, irisierende und fluoreszierende Oberflächen und integrierte Mikroelektronik das moderne Design. „Funky“ wirken Etiketten aus farbiger Metallfolie oder Zutaten mit Spiegeleffekten. Plastikverschlüsse in futuristischen Formen, aber auch gummierte Oberflächen, einfärbbare Nylonunterlegscheiben unter Metall-Plaketten, Kordelstopper und Kordelenden stützen den Technik-Charakter einer modernen Sportswear mit Tailormade-Charakter.
Zu beachten sind zudem multifunktionale und intelligente Etiketten, die bei Van Engelen & Evers stark im Trend liegen. Dazu gehört u.a. Diebstahlsicherung, Markenkennung und -sicherung über die RFID-Technologie.
[Regine Hövelmann]