15.01.21 – Neue Serie: Textilforschung hinterfragt
Folge 1: Textiles Mikroplastik? Das meiste ist Dreck!
Zu welchen neuen Erkenntnissen kommen Wissenschaft und Praxis dank der Textilforschung? textile network hinterfragt die spannendsten Forschungsberichte.
Der jährliche Forschungsbericht der Branche weist entlang der textilen Kette Aberdutzend öffentlich geförderte Projekte aus. Die Beitragsfolge startet mit einem erstrangigen Umwelt- und Handlungsthema: Das erst seit wenigen Jahren in die Schlagzeilen getretene Problem dahinter geht uns als Käufer von Bekleidung und Heimtextilien ebenso an wie als Konsument von Muscheln, Garnelen und Fisch: Mikroplastik im Meer.
Textiles Mikroplastik „Das meiste ist Dreck“ – sagt Hohenstein-Textilchemiker Dr. Jan Beringer.
Kann es sein, dass sich Gesetze, Verordnungen und Vorhaben auf Phantasiedaten beziehen? Man mag das nicht für möglich halten, doch bei der Beurteilung von Eintragsszenarien von Mikroplastik in die Weltmeere – zu einem Drittel sollen dafür textiler Abrieb bzw. abgelöste Partikelablösung an Fäden und Flächen verantwortlich sein – ist das offensichtlich der Fall. Hohenstein hat nun eine neue Messmethodik unter Laserlicht entwickelt, mit der bisherige Annahmen auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Seine Kernthese: Nur 10 Prozent der Mikroteilchen, die nach Wäschen freigesetzt werden, sind wirklich als textiles Mikroplastik einzustufen, alles andere ist Materie unbekannten Ursprungs, oder einfach nur „Dreck“.
textile network: Was genau haben Sie untersucht?
Dr. Jan Beringer: Im IGF-Projekt 19219N „Werterhalt von Leasingtextilien“ die Charakterisierung und Quantifizierung von Textilfasern, die durch Industriewäschen ins Wasser eingetragen werden. Dazu hat die Hohenstein Doktorandin Jasmin Jung ein neue Messmethodik per Bildgebung entwickelt. Die zugehörige Software erfasst und erkennt in der Ablauge von absolut reinen Polyestertextilien alle freigesetzten Anhaftungen im Bereich 10 bis 3.500 Mikrometer. Die Methodik mit 10.000 Fotos je Analyse ist wesentlich genauer als es bisherige Messungen per Filtration, aber in der Vorbereitung recht aufwendig und teuer.
textile network: Was sind die wesentlichsten gewonnenen Erkenntnisse?
Dr. Jan Beringer: Das Erstaunlichste ist, dass 90 Prozent Dreck – oder wissenschaftlicher ausgedrückt „Materie unbekannten Ursprungs“ –auf dem Textil angehaftet ist; beim Waschen nur wirklich 10 Prozent faser- oder plastikartiger Abrieb runterkommt. Die Ursache dafür ist, dass sich Polyester elektrostatisch auflädt und alles Mögliche während der Textilproduktion oder während der Transportkette an Schwebestoffen aus der Luft anzieht. Zum Zweiten ist es bei der Bestimmung des Mikroplastikanteils in der Waschlauge nicht unbedingt zielführend, das Abwasser wie bisher nur zu filtrieren. Das verfälscht, wie wir mit unseren Untersuchungen nachweisen konnten, das Ergebnis. Das führt dazu, dass die Daten, die jetzt bei NGOs und selbst bei Bundesministerien usw. zum Volumenpotenzial von textilem Mikroplastik existieren, nur auf Aussagen der Filtration beruhen – und die dürften, siehe oben, bezweifelt werden. Demzufolge ist auch die Datenlage, auf deren Basis die Europäische Kommission entsprechende Entscheidungen getroffen hat, ist alles andere als fundiert.
textile network: Das von Ihnen neu gewonnenen Wissen über textiles Mikroplastik sollte nun wo genau einfließen?
Dr. Jan Beringer: Auf europäischer Ebene hat sich ein CEN Normungsgremium gegründet, um eine Norm für textile Mikroplastikprüfungen zu entwickeln. Ziel von Hohenstein ist es, dass neben der besagten Abfiltrierung (Gravimetrie) auch die wesentlich präzisere dynamische Bildanalyse Einzug hält. Für die Nutzung unseres Bildgebungsverfahrens in Industrie und Forschung käme es darauf an, eine Balance zwischen Daten und Kosten zu finden. Wer ein Textil mit dem Anspruch entwickeln will, dass die Hälfte weniger Mikroplastik freisetzt, der muss exakt wissen, was drin ist und wie hoch genau der textilbasierte Abrieb beim Waschen ist.
textile network: Einen Überblick zu textiler Mikroplastik findet sich wo?
Dr. Jan Beringer: Die Plattform dafür heißt „The Microfiber Consortium“ mit Sitz in Großbritannien. Dort sind solche Akteure wie Adidas, H&M bzw. Hohenstein und Lenzing Mitglied. Ziel ist es, über systematische Untersuchungen abzuleiten, welche Garn- und Flächenkonstruktion welchen Einfluss auf das Freisetzungsverhalten von textilem Mikroplastik hat. Was in der Forschung bisher auch noch kaum keine Rolle spielt, ist die Tatsache, dass das Gebrauchsverhalten von Bekleidung, aber auch von technischen Textilien bisher noch kaum untersucht wurde: Textil nutzt sich mit jeder Wäsche, aber auch beim Tragen ab – nicht nur Berufsbekleidung an mechanisch belasteten Stellen, sondern auch Wetterjacken, Fischernetze, Transportplanen, Sichtschutz usw. An der Stelle ist noch sehr viel zu tun. Auch die ganze Ökotoxikologie, u. a. zur Beurteilung von gefährlichen Stoffen in Gewässern, hat bisher die Textilexperten nahezu vollkommen außen vor gelassen.