05.05.20 – Nachruf zum Tod von Philipp Moll — read English version

Ein Leben für die Technologie des Nähens

„Weitere Automatisierung, auch der Nähprozesse, ist die einzige Überlebenschance der deutschen, zumindest der westeuropäischen Bekleidungsindustrie.“

Philipp-Moll.jpg

Mit seinem richtungsweisenden Ansatz für das robotergestützte Nähen im Sphärischen entlang eines Formkörpers hat sich Philipp Moll einen Platz in den Geschichstbüchern als technologischer Revolutionär gesichert. Philipp Moll war zudem Inhaber von beeindruckenden mehr als 100 Patenten. © Peter Jost

 

Dies sagte Philipp Moll 1995 in einem Interview-Artikel mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sprach’s und machte sich daran den Beweis anzutreten, dass auch für biegeschlaffe Materialien der Fügevorgang zweidimensionaler Schnittteile zu dreidimensionalen Hüllen sehr wohl (roboter-)automatisiert und prozessintegriert möglich ist.

Was just heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts vor dem Durchbruch für die industrieweite Anwendung steht, hatte er bereits Mitte der 90er Jahre ermöglicht und zur Marktreife gebracht, zum ersten Einsatz in der Automobilzuliefer-Industrie (für die Fertigung von Kopfstützen- und Sitzbezügen).

Er wollte die Abwanderung der Bekleidungsproduktion nach Fernost verhindern ...

Sein Traum, die endgültige Abwanderung des Großteils der Bekleidungsfertigung nach Fernost zu verhindern, konnte nicht verwirklicht werden. Hier teilt er das Schicksal wahrer Visionäre, mit ihrer Idee und Pionierarbeit einfach zu früh dran zu sein – dies obwohl der Antrag für das Zukunftsprogramm „Produktion 2000“ mit finanzieller Unterstützung des Bundes sowie mit Entwicklungspartnern aller involvierten Disziplinen ins Leben gerufen wurde. Im Fall der Bekleidungsfertigung für die Idee nah am P.O.S. zu produzieren zu spät – seinerzeit. War doch der Mainstream zur Abwanderung in Länder mit konkurrenzlos niedrigen Arbeitskosten schon zu weit fortgeschritten. Zudem befand sich die Nähmaschinenindustrie weltweit bereits tief in der Krise und weit davon entfernt, in die breite Vermarktung revolutionärer Lösungen zu investieren.

Er war ein technologischer Revolutionär

Seinen Platz als technologischer Revolutionär in den Geschichtsbüchern hat Philipp Moll dennoch mit seinem richtungsweisenden Ansatz für das robotergestützte Nähen im Sphärischen entlang eines Formkörpers gesichert. Seine andere spektakuläre Entwicklung – die „chirurgische Nähmaschine“ – schaffte Voraussetzungen Leben zu retten in der Medizintechnik: Molls Prototyp optimiert den post-operativen Nähvorgang (40 Knoten pro Minute vs. zwei bei manuellem Nähen des Operateurs) am Menschen. Option zur erheblichen Verkürzung von OP-/Narkosezeiten und auch zum endoskopischen Nähen, damit zu verbesserten Heilungschancen und reduzierten OP-Risiken.

Fokus seines Wirkens

In über mehr als 50 engagierte Berufsjahre hinweg ging es ihm insbesondere um den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit für die Bekleidungsindustrie und anderer nähender Industriesparten. Philipp Moll ist der geistige und praktische Vater des dreidimensionalen Nähprozesses, der heute die automatisierte Verarbeitung biegeschlaffer Materialien in höchster Qualität ermöglicht und die Bekleidungsindustrie verdankt ihm als Inhaber von beindruckenden mehr als 100 Patenten eine Vielzahl von innovativen Betriebsmitteln zur erheblichen Prozessverbesserungen – und damit Qualitätssicherung und Kostensenkung.

Eine Vielzahl von Aggregaten aus seinen Konstruktionsbüros, zuletzt der Moll Automatische Nähsysteme GmbH, Alsdorf, haben längst als Standard weltweit Einzug in die Bekleidungsfertigende Industrie gefunden. Darunter der Rollpikierautomat, der Rundtisch zum Vornähen und Beschneiden von Kleinteilen, Vorschubeinrichtungen (Indexer) und Peripherie zur Handhabung komplexer Nähvorgänge wie beispielsweise der Knopflochverarbeitung.

Textilstandort Aachen

Mit dem Textilstandort Aachen eng vernetzt, kennzeichnet sein erfolgreiches Wirken über Jahrzehnte die fruchtbare Zusammenarbeit mit der TH/RWTH, dem Institut für Textiltechnik (ITA) und dem Universitätsklinikum. Der Schulterschluss mit den Nähmaschinenherstellern (Strobel, Dürkopp Adler) über seinen gesamten Werdegang hinweg sicherte dabei jeweils die breite Marktdurchdringung zahlreicher seiner Entwicklungen.

Als Mitbegründer und jahrzehntelanger Vorstandsvorsitzender des Instituts für Nähtechnik (IfN) sicherte er überdies die Weiterentwicklung von Innovationen in der Forschung – in Zeiten als die Bekleidungsindustrie als Wirtschaftsfaktor in der Bundesrepublik und auf europäischer Ebene noch eine Lobby hatte. Unter seiner Ägide wurden bis in die 2000er Jahre on-demand Anwendungsprojekte in den verbliebenen Betrieben umgesetzt, dazu Engagement in der Lehre verwirklicht und damit Nachwuchssicherung gefördert.

Seine eigenen Lehr- und Wanderjahre währten ein Leben lang

Nach Mechaniker-Ausbildung und Abendstudien an der TH Aachen, REFA-Ausbildung und Arbeit im elterlichen Nähmaschinengeschäft agierte Moll zunächst als Betriebsberater bei der Reorganisation der Nähereien für Unternehmen wie August Becker in Mönchengladbach, Hösch oder Schlichting in Aachen, handhabte Projekte für Odermark und Leithäuser. Über die Jahrzehnte seines Wirkens teilte Philipp Moll auf Kongressen und Tagungen in Europa, Asien und Nordamerika Ergebnisse seiner Arbeit und seinen Innovationsgeist mit der Fachwelt und verfolgte über seine Reisen stets internationale Technologietrends und Entwicklungen. Bereits jenseits der 80 veröffentlichte der Vater von fünf Kindern im Jahr 2015 sein Buch „Ein Leben für die Nähmaschine“.

„Philosophie – hätte ich ohne Zögern geantwortet, wenn mich nach dem Krieg jemand gefragt hätte, was ich studieren möchte.”

So lautete einmal seine Antwort gegenüber der Chronistin in einem Interview für die Fachpresse. Und dennoch, es war „das Wissen wollen warum“, das seinen Lebensweg prägte. Am 10. April verstarb Philipp Moll, Visionär und Konstrukteur richtungsweisender Nähtechnologie, im Alter von 90 Jahren an seinem Geburtsort und dem Zentrum seiner Wirkungsstätte in Aachen. Wir werden ihn nie vergessen.

Yvonne Heinen-Foudeh, Prof. Dr. Kerstin Zöll

Weitere Artikel zu: