06.05.19 – Ausbildung — read English version
Verpasste Zukunftschancen
Die Ausbildungsrealität galoppiert an vergilbten Lehrinhalten vorbei. Hat Deutschland als technotextiler Global Player eine nachhaltig stabile Zukunft?
Der Münchner Zukunftslotse Thomas Strobel* warnt mit Blick auf die den Realitäten hinterherhinkende Facharbeiter-Ausbildung vor verpassten Zukunftschancen.
E-textiles, textile Leichtbau-Verbundmaterialien, Implantate aus der Flechtmaschine, Industriedigitalisierung 4.0 ... Die Welt der überall boomenden technischen Textilien ist interdisziplinär, branchenübergreifend, hochtechnologisch und komplex geworden.
26 textile Ausbildungsberufe
Von diesen zum Teil atemberaubenden Entwicklungen erfahren Azubis in den 26 textilen Ausbildungsberufen, die beispielsweise das Portal planet-beruf.de auflistet, offensichtlich wenig. Berufe mit Textilien lesen sich immer noch so wie vor 30, 40 Jahren: Änderungsschneider/in, Bekleidungsnäher/in, Fahrzeuginnenausstatter/in, Produktgestalter/in, Raumausstatter/in, Seiler/in, Textil- und Modeschneider/in, Textilreiniger/in …
Laut Bundesinstitut für Berufsbildung wurden 2018 gut 531.000 Ausbildungsverträge in 320 Berufen abgeschlossen. Über 75 Prozent der Azubis begannen ihr Berufsleben in den Top 50-Sparten wie Büro, Einzelhandel, Dienstleistungen. Der erste reine Textilberuf mit 270 Neuverträgen taucht auf Rang 154 auf: Maßschneider/in.
Angestaubte Branche ohne Zukunftsperspektive?
Wer als interessierter Textillehrling nicht rechtzeitig auf eines der großen Textilforschungsinstitute oder an der neuen NRW-Textilakademie in Mönchengladbach stößt – allesamt praxisnahe Institutionen, die sich naturgemäß mit der spannenden textilen Zukunft beschäftigen – könnte befürchten, am Ende seiner Azubi-Laufbahn ggf. in einer angestaubten Branche ohne Zukunftsperspektive unterwegs zu sein.
Es wird nach wie vor – nicht nur bei Textil – in Berufsbildern ausgebildet, die es vielleicht nicht mehr lange geben wird oder die sich grundlegend verändern werden. Hinzu kommt, dass der sich heute bereits andeutende Fachkräftemangel morgen häufig schon in Berufen auftreten wird, die heute noch gänzlich unbekannt sind. Mögliche Beispiele sind Textilelektroniker/in, Textilsensoriker/in oder Textilaktoriker/in.
Berechtigte Fragen
Über 20 Jahre hat es gebraucht, um nach Gründung von eBay und Amazon vor kurzem erst die längst überfällige Ausbildung im Berufsbild e-Commerce-Kaufmann/frau anzuschieben. Zukunftslotse Strobel hält daher folgende Fragen auch für den Textilsektor berechtigt:
• Nach welchem Zukunftsplan sollen die Lehrinhalte der heutigen Ausbildungsberufe auf Praxistauglichkeit überprüft und auf Zukunftssicherheit angepasst werden?
• Wie lassen sich die wichtigen Grundfähigkeiten ermitteln, die in Ausbildungsberufen für dauerhaft gute Arbeitsplatzchancen, nachhaltiges Wissen und lebenslanges Lernen vermittelt werden sollen?
• Mit welchen Zukunftsbildern können Berufe und Berufsbilder von morgen vorgedacht werden, damit für diesen Kompetenzbedarf auch passende Ausbildung geplant wird?
• Wie entstehen zeitgemäße Konzepte für Ausbildung und Beruf, die die jeweils zukunftsträchtigsten Lern- und Assistenzformen verknüpfen, z. B. Arbeitsplatz, Tablet, Smartphone, e-Learning, Virtual Reality, Augmented Reality, situative Informationsbereitstellung etc.?
Notwendig ist ferner auch ein gesellschaftlicher und Expertendiskurs über die Frage: Wie stellen wir sicher, dass Menschen darauf vorbereitet werden in ihrem Arbeitsleben in verschiedenen Berufen zu arbeiten? Alle fünf Jahre etwas anderes zu machen, hätte in 40 Berufsjahren acht verschiedene Berufe oder Tätigkeiten zur Folge …
Thomas Strobel
*Thomas Strobel ist mit dem Industriezweig Textil eng verbunden: Im Auftrag des Forschungskuratoriums Textil moderierte er mit interdisziplinären Teams aus Textilforschung und -praxis im Rahmen des Projekts „Perspektiven 2025“ eine Zeitreise. Im Ergebnis wurden 250 textile Zukunftsprodukte und neue Geschäftsmodelle entwickelt.