24.11.21 – Killerfaktor „Out of stock”

Warum der Modehandel mit RFID-Supply-Chains gewinnt

Die Lösung für die aktuellen Out-of-stock-Situationen (OoS) ist nicht Resignation, sondern Reorganisation. – ein Beitrag von Alexander Gauby

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Kontaktlose RFID-Workflows im Store bilden Prozesse wie Warenannahme, Picking oder Inventur deutlich effizienter ab und stellen die Daten unmittelbar für die Systeme der beteiligten Partner bereit. © Sys-Pro GmbH

 
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RFID-Tunnel erfassen in der Kommissionierung sämtliche Bestandteile einer VPE bis zum einzelnen Artikel und leiten die Daten in Echtzeit weiter. © Sys-Pro GmbH

 

Es ist eine gute Nachricht: Selbst die Corona-Pandemie konnte den „klassischen” Modehandel nicht zerstören – auch wenn sie der Online-Konkurrenz natürlich einen kräftigen Schub gegeben hat. Doch die Wettbewerbsnachteile des stationären Handels sind älter als das Virus. Und sie haben viel mit einem blinden Fleck zu tun, der erst jetzt vollständig in den Fokus von Händlern und Branchenspezialisten rückt: das Wirken von „gefühlten“ und realen Out-of-stock-Situationen (OoS). Die Lösung ist nicht Resignation, sondern Reorganisation. Plus RFID.

Handel beruht auf einigen einfachen Prinzipien. So muss, wer konkurrenzfähig sein will, einen möglichst großen Teil der produzierten Ware zum Normalpreis an seine Kunden verkaufen. Dazu muss ein Produkt in dem Moment, wo sich ein Kunde dafür interessiert, auch real verfügbar sein – egal in welchem Verkaufskanal der Konsument sich befindet. Wer in diesem kurzen Moment „out of stock“ ist, hat den Kunden oft bereits an die Konkurrenz verloren: entweder für diesen Kauf oder für immer.

„Out of stock“ kostet bares Geld

Schon Anfang der 2000er Jahre zeigten Studien der Universität St. Gallen und der Universität von Arkansas, dass OoS-Situationen im stationären Handel Umsatzverluste in der Größenordnung von 4 % bewirken. Aktuelle Erkenntnisse bestätigen diese Zahlen und aufgrund der geringen Losgrößen pro SKU (Stock Keeping Unit) könnten die Umsatzverluste im Modehandel durchaus noch höher liegen. Auch wenn OoS im Store nicht direkt messbar ist: Das Problem ist real.

Viele Modehändler haben schon vor einigen Jahren mit der Transformation ihrer Absatzkanäle und -methoden begonnen. Die Orientierung auf Omnichannel-* oder sogar Unified-Commerce**-Prozesse steht vorrangig im Zeichen einer uneingeschränkten Warenverfügbarkeit. Im Gefolge dieser Kanal-Integrationen setzen sich wichtige Innovationen durch: Endless Aisle als „virtuelle Regalverlängerung“ für ein unbeschränkt lieferbares Store-Angebot, Click&Collect als das neue bequeme Einkaufen mit Lieferung in wenigen Stunden, digitales Corporate Replenishment zwischen Produzenten und Händlern als neuer Belieferungsstandard mit garantierter Bestandsverfügbarkeit.

Daten entscheiden alles

Doch wie schnell kann man als Modehändler durch diese Transformation im Vergleich zur Online-Konkurrenz wirklich werden? Die Achillesferse jedes Omnichannel- oder Unified-Commerce-Systems sind die verfügbaren Artikeldaten: Sind sie valide, auf die Sekunde aktuell und aussagekräftig genug? Jeder Fehler und jede Verzögerung im Datenfluss verringert die erreichbare Warenverfügbarkeit und gefährdet das wiedergewonnene Kundenvertrauen erneut.

Letztendlich sind es zwei Schlüsselfaktoren, die den Unterschied machen: Erstens braucht der Händler eine zu jedem Zeitpunkt komplett transparente Supply Chain, die exakte Aussagen über Position und Zustand jedes einzelnen Artikels liefert. Und zweitens sind smarte, barrierearme und unaufwendige Abläufe für die Mitarbeiter notwendig – Ziel ist es, Fehlerquellen auszuschalten, keine zusätzlichen Belastungen zu erzeugen und Zeit für das eigentliche Plus im stationären Handel freizusetzen: gute Beratung und aktives Verkaufen!

RFID als Türöffner

Manchmal ist Deutschland (bzw. die DACH-Region) eine seltsame Insel in der Zeit. Seit über 70 Jahren gibt es RFID, seit über 50 Jahren passive RFID-Transponder, seit etwa 40 Jahren wird RFID wirtschaftlich genutzt. Im Jahr 2017 waren 9 Mrd. RFID-Tags allein im Bereich Fashion im weltweiten Einsatz***. Besucht man heute Handelshäuser in den USA oder in Asien, sind 100 % der Waren mit RFID-Etiketten ausgezeichnet. Und hierzulande wird allen Ernstes immer noch diskutiert, warum sich RFID im Modehandel „noch nicht durchgesetzt hat“. Übrigens: Während die einen noch fragen, sind andere (z. B. die Adler Modemärkte und Marc’O Polo) bereits mit großem Vorsprung im Ziel.

Warum sprechen wir über eine Technologie, die ursprünglich für die Identifikation von englischen Militärflugzeugen bei der eigenen Luftabwehr entwickelt wurde? Weil RFID im heutigen Standard an jeder Stelle einer Supply Chain ein entscheidendes Problem löst: Die Beschaffung der Wahrheit über einen Artikel in Echtzeit. Wal-Mart und Inditex haben schon vor Jahren verstanden, dass sich mit RFID ohne nennenswerten Zusatzaufwand und teilweise sogar mit Effizienzsteigerung volle Bestandstransparenz erzielen lässt – die entscheidende Voraussetzung für uneingeschränkte Artikelverfügbarkeit.

RFID verändert fast alles. In der Artikellogistik wird der RFID-Code zum weltweit gültigen, unverwechselbaren „Fingerprint“ jedes Items. RFID-Tunnel identifizieren Waren selbst in geschlossenen Gebinden (Pulks) bis auf Einzelteilebene. Warenein- und -ausgänge lassen sich kontaktlos und unbestechlich automatisieren. Chargen und Einzelteile lassen sich anhand von Erfassungsdaten lückenlos rückverfolgen, Retouren werden betrugssicher, „hands-free“ und barrierearm abgewickelt. Fehlkommissionierungen und -lieferungen sind komplett vermeidbar, Avisierungen erfolgen zuverlässig und eindeutig. Und angeschlossene ERP-Systeme registrieren jede einzelne Bestandsveränderung rechtssicher.

Im stationären Store wird RFID zum smarten Effizienzprogramm. Inventuren können wahlweise flächendeckend in Echtzeit, via Bot automatisch in den Schließzeiten oder ad hoc beim Ablaufen der Regalreihen mit dem Handheld erfolgen. Artikel werden an jedem Ort der Verkaufsfläche gefunden und ihre Bewegungen durch den Store mitverfolgt. Fehleranfällige Omnichannel-Abläufe wie Picking und Retourenmanagement werden extrem vereinfacht. Bei Umlagerungen zwischen Filialen, Online-Auslieferungen, Reservierungen oder Click&Collect-Prozessen sind Fehlauswahlen ausgeschlossen und das Produkt verschwindet zu keinem Zeitpunkt vom „Radar“. Das Ergebnis: Warenverfügbarkeit für alle Kanäle.

Von Hennen und Eiern: Was hindert den Handel?

Es hat wenig Wert, auf RFID zu verzichten – aber es gibt eine entscheidende Hemmschwelle: den Aufwand des Auszeichnens (Tagging). Händler, die nicht bereits über eine eigene Produktauszeichnung verfügen, scheuen diesen Aufwand und warten darauf, dass die Produzenten am anderen Ende der Supply Chain ihn übernehmen. Diese Erwartung ist sogar gerechtfertigt: RFID gehört in die gesamte Supply Chain. Problematisch ist aber die oft zu beobachtende „Beißhemmung“ im deutschen Modehandel, der sich traditionell zu schwach fühlt, den nötigen Druck auf renommierte Markenartikler auszuüben.

Diese Zurückhaltung ist ebenso unnötig wie falsch. Modemarken und ihre Auftragsproduzenten wissen sehr gut, dass sie mit dem Handel in einem Boot sitzen. Vor allem aber haben sie großes Interesse daran, die meist unzuverlässige Datenbasis für Kollektionsplanung und Nachlieferungsprozesse zu verbessern. Der Zugriff auf reale Bestands- und Bewegungsdaten aus dem Handel über einen gemeinsamen RFID-Workflow hat hier einen großen Wert. Und auch andere Argumente senken erfahrungsgemäß die Hemmschwelle – zum Beispiel beschleunigte Ordering-Prozesse und Zahlungsläufe, weniger Reibungen im Prozess oder die intelligente Absatzoptimierung via Corporate Replenishment.

Motivation genug sollte es also auf allen Seiten geben. Denn der Weg heraus aus der „Out-of-stock“-Falle beginnt mit einem neuen Blick auf das Kundenverhalten und auf den Weg jedes einzelnen Produkts. Wer im Wettbewerb mit dem Online-Handel per Omnichannel oder Unified Commerce bestehen will, wird dabei auf RFID nicht verzichten.

Autor: Alexander Gauby, Head of RFID Business Development, Sys-Pro GmbH

 

* Omnichannel Commerce ist das Bespielen mehrerer Absatzkanäle wie Online-Shop und stationäre Stores aus ein und demselben Warenbestand, oft gekoppelt mit Instrumenten für ein übergreifendes Marketing und CRM im Sinne einer konsistenten Customer Experience.

** Unified Commerce erweitert das Omnichannel-Konzept um eine vollständige technologische Integration, die auf Basis einer einheitlichen Informationsplattform sämtliche Daten in Echtzeit zugreifbar macht.

*** Quelle: RFID Journal

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