15.12.21 – Interview mit Bettina Bär
Epochenwechsel oder „back to normal“?
Die Januar-Ausgabe der Neonyt, die Messe für nachhaltige Mode in Frankfurt, rückt näher. Show Director Bettina Bär verrät uns, was die Besucher erwartet.
Vom 18. bis 20. Januar 2022 findet in Frankfurt am Main die Neonyt, parallel zur Frankfurt Fashion Week, unter der 2G-Plus-Regel statt. Bettina Bär ist seit Mitte Oktober 2021 neue Show Director der Neonyt und des Messeformats Val:ue im Bereich Textiles & Textile Technologies. Wir wollten von ihr wissen, was die Branche in Sachen Nachhaltigkeit besonders bewegt und wie sich das auf der Neonyt in den Themen und den Ausstellern niederschlägt.
textile network: Nach aktuellem Stand ist die Neonyt als physische Messe unter 2G-Plus-Regel geplant. Gibt es für den Fall, dass Bund und Länder weitere Restriktionen für Großveranstaltungen vorsehen, einen Alternativ-Plan, wie z. B. ein rein digitales Event?
Bettina Bär: Die Neonyt musste sich, wie jede andere Veranstaltung im Event- und Messesektor, neu orientieren, umstrukturieren und digitaler denken. Dennoch haben wir bereits in vergangenen Saisons davon abgesehen, einen Online-Showroom für unsere Aussteller/innen zu implementieren und werden das auch für den kommenden Januar nicht als gangbaren Plan B sehen. Unsere Cross Sector-Community spiegelt uns immer wieder, wie wichtig ihnen der persönliche Austausch ist – das Erleben von Fashion und Textilien ist einfach immer noch ein Offline-Business: Mode lebt von der persönlichen Interaktion, der Präsentation und der Inspiration, sowie davon, Materialien und Handwerkskunst aus nächster Nähe sehen und fühlen zu können. Aber natürlich erfordert diese Krise von allen Beteiligten ein Umdenken in Richtung Agilität, um in einem disruptiven Umfeld skalieren zu können. Deshalb haben wir in den letzten drei Saisons unsere Konferenzthemen für Fashionsustain online abgebildet, sie über digitale Module ausgespeilt und per Livestream übertragen. Das Kerngeschäft war, ist und wird jedoch immer sein, Menschen zusammenzubringen, offline und von Angesicht zu Angesicht.
textile network: Welchen thematischen Schwerpunkten wird sich die kommende Neonyt widmen? Gibt es speziell ein Thema aus dem Bereich Nachhaltigkeit, das die Textil- und Modebranche derzeit stark beschäftigt und das auf der Fashionsustain im Fokus stehen wird?
Bettina Bär: Mit dem saisonalen Claim „Change the set-up“ der Neonyt gehen wir auf den aktuellen Wandel der Textil- und Modebranche stark ein. Die letzten 20 Monate waren überwiegend fremdbestimmt; sowohl Rahmenbedingungen veränderten sich als auch die Gesellschaft und die Wirtschaft. Die internationale Textil- und Modeproduktion war on hold, aber die Branche verharrte nicht im Stillstand. Und uns drängen sich Fragen auf, wie beispielsweise: Was steht nun eigentlich an? Epochenwechsel und Paradigmen-Shift oder doch „back to normal“?
Uns allen ist klar, dass die Spielregeln nun andere sind, aber wir gemeinsam haben die Möglichkeit, das Spielfeld zu definieren und aufzuzeigen, wohin es geht: Mode wird zur Schnittstelle von Design und Nachhaltigkeit, Inklusion und Digitalisierung, Verantwortung und Technologie, Diversität und Konformität. Und diesen aufregenden Buzz begleiten wir mit der Neonyt und natürlich auch der Fashionsustain-Konferenz. Dort werden drei Tage lang Impulse für den laufenden Transformationsprozess der Branche gesetzt. Neben technologischen Innovationen, neuen Geschäftsmodellen und Ansätzen für den Modehandel stehen dabei Themen wie Konsumverhalten, Gaming und Nudging for Good auf der Agenda, um das Spannungsfeld zwischen Anspruch und Realität zu ergründen.
textile network: Welche Unternehmen stellen auf der Neonyt aus?
Bettina Bär: Alle, die die Textil- und Modebranche nachhaltig verändern und nach vorne bringen wollen, kommen auf die Neonyt. Unsere Cross Sector-Community schließt etablierte Marken und Start-ups ein – wer unseren Nachhaltigkeits- und Style-Check erfolgreich durchläuft, ist als ausstellendes Label auf der Neonyt Tradeshow willkommen. Diese Regel gilt bei der Neonyt seit jeher: Vor der Zulassung füllen alle interessierten Labels und Brands einen mehrseitigen Fragebogen aus, in dem spezifische Angaben zu ihrem ökologischen und sozialen Engagement abgefragt werden. Diese können sie durch Zertifikate wie Bluesign, GOTS, Fair Trade oder Oeko-Tex, die Beteiligung an Multi-Stakeholder/innen-Programmen, ihren Code-of-Conducts, Angaben zu dem CO2- und Waterfootprint, Informationen zur Liefer- und Wertschöpfungskette und Auskunft zu Ressourceneffizienz oder innovativen Produktionszyklen nachweisen.
Wir schaffen es so, echte modische Nachhaltigkeit zu garantieren: Nur Labels, die mindestens 70 % der Anforderungen erfüllen, sind „Neonyt approved“ und dürfen auf der Tradeshow ausstellen. Labels und Messebesucher/innen – Agenturen, Einkäufer/innen, Händler/innen, Marketing- und CSR-Verantwortliche, Wirtschaftsjournalist/innen und Moderedakteur/innen – können sich also sicher sein, dass hier auch grün drin ist, wenn grün drauf steht.
textile network: Würden Sie sagen, dass Nachhaltigkeit vor allem ein Thema der Generation Y und Z ist? Und dass deshalb das Fachpublikum auf der Neonyt eher jünger im Vergleich zu anderen Textilmessen ist? Das ist zumindest mein Eindruck ...
Bettina Bär: Richtig, vor allem die „Instagram“-Generation: Millennials und Generation Z, die „Digital Natives“ haben eine stärkere Sensibilität für Themen der sozialen Geleichberichtung – wie Gender-Equality, Diskriminierung oder Diversität und fordern von Marken mehr als nur attraktive Produkte; sie fordern Vielfalt, Inklusivität und vor allem einen transparenten und verantwortungsvollen Umgang mit den Menschen und der Umwelt. Aber das insgesamt veränderte Bewusstsein und der Wertewandel der Konsument/innen führt zu einer gesteigerten Nachfrage nachhaltiger Produkte – Mode „made to last“ statt „dressed for the moment“ sozusagen. Alles in allem kann man sagen, die Mentalität unserer Fachbesucher/innen ist definitiv eine „jüngere“ als auf anderen Messeformaten.
textile network: Nachhaltigkeit ist seit Jahren in aller Munde und nimmt in der Öffentlichkeit stetig mehr Raum ein. Von vielen Unternehmen wird das Trendthema als Marketingmittel bis zum Letzten ausgereizt – Stichwort Greenwashing. Doch wie viel Prozent der Textilunternehmen, die Nachhaltigkeit für sich deklarieren, gehen diesen Weg tatsächlich konsequent? Bedient Nachhaltigkeit immer noch eine Nische in der Mode- und Textilbranche, wird aber in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen, weil jeder damit hausieren geht?
Bettina Bär: Das Angebot nachhaltiger Kleidung wächst – jedes Jahr um das Fünffache. Der Gesamtanteil beläuft sich laut einer McKinsey-Studie dennoch auf nur 1 % der Ware, die als nachhaltig gekennzeichnet wird. Das weist darauf hin, dass immer noch internationale Standards für Nachhaltigkeit und klare Definitionen fehlen. Nachhaltigkeit ist nichts, das wir über Nacht lernen können. Deshalb ist es wichtig, dass es offizielle klare Vorschriften gibt, an denen sich Unternehmen orientieren müssen und Verbraucher/innen orientieren können, wenn es um nachhaltige Mode geht. Es gibt Siegel und Zertifizierungen, die genau diese Orientierung bieten.
Inzwischen hält mehr als die Hälfte der weltweiten Einkaufschef/innen in der Modebranche Nachhaltigkeit für eine der wichtigsten Geschäftsstrategien und auch die Besucher/innenzahlen der letzten physischen Neonyt zeigen, dass der Anteil konventioneller Modeeinzelhändler/innen bei uns um 16 % gestiegen ist.
Der konventionelle Modeeinzelhandel erkennt also den Gap zwischen Labels, die behaupten nachhaltig zu sein, und Labels, die es wirklich sind und dies auch nachweisen können – genau aus diesem Grund halten wir auch an unseren strengen Sustainability-Kriterien fest und checken jedes unserer Labels, bevor sie bei uns ausstellen dürfen.
Grundsätzlich gilt, nur informierte Verbraucher/innen können nachhaltige und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen. Es ist also Aufgabe der Marken, diese transparent in ihre Nachhaltigkeitsbemühungen einzubeziehen und für einen lückenlosen Kommunikationsfluss zu sorgen.
textile network: Welche Innovation oder Technologie aus der Mode- oder Textilbranche hat Sie in diesem Jahr am meisten beeindruckt?
Bettina Bär: Für mich persönlich hat nicht ein Produkt den größten Einfluss, sondern eine Einstellung: Zusammenarbeit – zusammenarbeiten, um etwas zu verbessern. Konkret auf Innovationen oder Technologien bezogen, finde ich, dass alles, was auf Kreislaufwirtschaft ausgelegt ist, positive Auswirkungen hat. Modeunternehmen müssen ihre Kräfte bündeln, um ein Ökosystem zu schaffen, das transformative Innovationen unterstützt, insbesondere bei Rohstoffen. Die Unternehmen können diese Herausforderungen nicht allein bewältigen. Die Umwandlung von Orangenschalen und Algen in Stoffe und von Traubenresten in Leder auf Pflanzenbasis sind nur einige der großartigen Ideen, die bereits umgesetzt wurden.
Ich bin davon überzeugt, dass technische Innovationen die Lösung für viele der ökologischen Herausforderungen sein werden, denen sich die Textil- und Modeindustrie gegenübersieht, und zu einem nachhaltigeren Konsum beitragen werden.
textile network: Frau Bär, vielen Dank für das informative Gespräch!