07.12.21 – Interview mit Günter Grabher

KI hält Einzug ins „Schlaraffenland“

Der Vorarlberger Multiunternehmer Günter Grabher leitet eines der erfolgreichsten textilen Netzwerke: die Smart Textiles Platform Austria.

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Mr. Smart Textiles: Günter Grabher auf den Millennium Innovation Days 2021 © Wirtschaftsförderung Vorarlberg

 
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Erfasst mit KI das Vorhoffflimmern: Brustgurt von 24sens © Grabher Group

 

Am Rande des fünftägigen Veranstaltungs-Erstlings des Verbundes, den Millennium Innovation Days, informierte der 52-Jährige über KI-gestützte Vorhaben.

textile network: Sie sind als „Mr. Smart Textiles“ über Österreich hinaus bekannt, engagieren sich als Gründer der Platform und darüber hinaus mit Ihrer Grabher-Group stark in diesem Bereich. Warum?

Günter Grabher: Smart Textiles haben bekanntlich ein großes Potenzial, das wir mit Hilfe unserer gut 80 Plattform-Partner aus verschiedenen Industriebereichen oder mit unseren Firmen V-trion research, 24sens bzw. V-project erschließen helfen. Wer beispielsweise intelligente Textilien zur Sturzprävention oder zur Vorhersage von Schlaganfällen und Herzinfarkten entwickeln will, ist als Textiler auf das Know-how von IT- und Softwarespezialisten, KI-Experten oder auch von Kunststoff-Profis angewiesen. Diese Branchenvielfalt bilden wir im Netzwerk ab bzw. muss dort und da noch dazu addiert werden. Von Textilien, die Körperfunktionen oder Druck messen über innovative Beschichtungen bis hin zu Leichtbau-Lösungen für die Automobilindustrie: Lösungen und Produkte auf smarttextiler Grundlage mit in Fäden oder textilen Flächen integrierter Elektronik finden immer breitere Einsatzgebiete. Diese Wertschöpfung hat Zukunft; wir stehen damit erst ganz am Anfang.

textile network: In den letzten Jahren hat sich das Bundesland Vorarlberg als textiles Silicon Valley Rheintal einen Namen gemacht. Welchen Anteil haben smarte Textilien daran?

Günter Grabher: Unser Standort Lustenau war über Jahrzehnte hinweg so eine Art Weltzentrum der Stickerei-Industrie. Durch den Strukturwandel musste sich die einstige textile Monoindustrie neu ausrichten bzw. neu erfinden. Uns ist es dabei als so ziemlich einzige Region in Europa gelungen, die vollständige textile Wertschöpfungskette durch rund 200 Unternehmen zu erhalten. Das kommt uns jetzt bei der Entwicklung und Produktion von intelligenten und technischen Textilien zugute. Es ist wie im Schlaraffenland: kurze Wege, vertraute Akteure, schnelle Teambildung, flexibles Reagieren – und das alles auf Augenhöhe. Dieser Standortvorteil und die Tatsache, dass unser Netzwerk auch über den Raum Bodensee hinaus Kompetenzpartner hat, ermöglicht es uns, eine Vielzahl von Entwicklungen parallel in Angriff zu nehmen und dank der Innovationsförderung auch schnell umzusetzen.

textile network: Dass ein Netzwerk ein eigenes textiles SensorLab betreibt und jetzt noch jedes Jahr im September eine internationale B2B-Veranstaltung ausrichtet, ist schon eher ungewöhnlich …

Günter Grabher: … und doch irgendwo logisch und folgerichtig, wie ich meine. Ideenfindung, Entwicklung und letztendlich die Produktion von Hightech-Textilien können nur branchenübergreifend und partnerschaftlich gelingen. Um Entwicklungszeiten bei smarttextilen Projekten zu verkürzen, laden wir beispielsweise die Industrie inunser Lab ein, um für zwei, drei Tage die hier vorhandene Kompetenz zu nutzen. Da andererseits das Netzwerk ständig auf der Suche nach Entwicklungspartnern und -projekten ist, haben wir mit den Millenniums Innovation Days ein modernes Veranstaltungsformat geschaffen, um praxisrelevant zu informieren, neue Trends zu diskutieren und bisher unbekannte Kompetenzen in unsere Innovationsgruppen Green Deal, Medical & Healthcare und Digital Innovation einzubinden.

textile network: Wer Elektronik ins Textil einbringt, hat automatisch auch mit künstlicher Intelligenz zu tun.

Günter Grabher: Genau. Wir haben aus der Platform heraus vor zwei Jahren ein Projekt begonnen, das sich dem Phänomen des Vorhofflimmerns als Vorstufe von Schlaganfällen und Herzinfarkten annimmt. Das inzwischen daraus hervorgegangene Startup 24sens nutzt für seinen als Medizinprodukt zugelassenen Brustgurt die Möglichkeiten der KI zur Analyse der Daten und macht so Voraussagen mit Genauigkeiten und Präzisionswerten von über 90 Prozent möglich. Dafür werden die Herzaktivitäten permanent im 500stel Sekundentakt aufgezeichnet. Zur Aufbereitung der Daten kommt eine Software zum Einsatz, die auf mathematischen Transformationen und in der ein KI-Modell aus Datensätzen von 1.900 Patienten angelegt ist. Die Software erkennt Bereiche des Vorhofflimmerns und visualisiert die erkannten Abschnitte in einem EKG-Diagramm. In der Folge können diese Daten direkt von den behandelnden Ärzten zur Vordiagnostik herangezogen werden.

textile network: Gibt es weitere spannende Plattform-Projekte auf diesem Level?

Günter Grabher: Die Pandemie hat gezeigt, dass sich speziell im Pflegebereich einige Lücken in Bezug auf das Wohl der betreffenden Personen aufgetan haben. Auch der Blick auf die Altersspirale und den Wunsch vieler, in ihren eigenen vier Wänden möglichst bis zum Schluss alt werden zu können, zeigt: Innovative Smart Textiles-Produkte im Massenmarkt hätten nicht nur einen enormen Nutzwert, wenn es um das Monitoring von Vitalparametern, der Überwachung (Stürze, Umherirren, Hilflosigkeit usw.) oder Unterstützung in Form von Aktoren als Muskelverstärker geht. Sie könnten darüber hinaus auch – und das ist mir wichtig zu betonen – zur massiven Kostenreduktion der Betreuungs- und Pflegekosten führen.

textile network: Konkrete Projekte aus diesem Bereich sind ...

Günter Grabher: ... reichlich vorhanden. Sie reichen zum Stichpunkt Smart Home von Textil-Sensorik in Wohnmöbeln zur Überwachung von Bewegungsprofilen älterer Menschen bis zum Vitaldaten-Monitoring zur Erkennung des Stress-Levels, um damit Burnout-Erkrankungen vorzubeugen. Um ein drittes Thema zu benennen: In einem Netzwerkprojekt aus diesem Themenkreis geht es um die Messung von Hinströmen durch Textilelektroden und die Nutzung verändertet Hirnaktivitäten zur Steuerung elektronischer Geräte (virtuelle Gedankenübertragung). Weitere Themen betreffen das textile Energie-Harvesting für autonome, batterielose Sensorsysteme oder als Vorhaben textile Infrastruktur-Komponenten für das Management von Wasserstoff-Brennzellen, Heizelementen oder für die Luftfilterung.

textile network: Zum Schluss die Frage: Es gibt einige Smart Textiles-Cluster – die wohl aber immer noch unverclustert sind?

Günter Grabher: In der Tat ist das noch ein ungelöstes Problem. Klar arbeiten wir mit dem einen oder anderen Netzwerk fallweise zusammen. Es wäre natürlich wünschenswert, wenn beispielsweise mit den (süd)deutschen Kollegen ein größerer Austausch stattfinden oder gar gemeinsame Aktivitäten in Angriff genommen werden könnten. Für Europa und seine Wertschöpfung wäre es vielleicht nicht die schlechteste Idee, wenn das Thema Smart Textiles nicht nur branchen-, sondern auch länderübergreifend mehr an Fahrt gewänne.

Herr Grabher, vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen für textile network stellte Hans-Werner Oertel.

  • Die nächsten Millennium Innovation Days finden vom 26. bis 30. September 2022, wieder in Lustenau/Österreich, statt.

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