30.03.20 – Wenn die „zweite Haut“ elektronisch wird — read English version

Wie entwickelt man eigentlich Smart Textiles?

Noch ist es Zukunftsmusik, doch wesentliche Elemente des Smartphones werden bald in die zweite Haut des Menschen integriert. Fragen an Luntive.

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Smarttextile Anwendungsfelder bei Workwear © Lunative

 
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Verantwortlich für die strategische Produktentwicklung bei Lunative: Achim Pörtner © Lunative

 

Die Rede ist von smarttextiler Kleidung, die dann automatisiert, per Touch oder sensitiv mit der Geräteumwelt interagiert. Darüber sprach textile network mit Achim Pörtner, Entwicklungsleiter des europäischen Smart Textiles-Technologieführers Lunative.

textile network: Herr Pörtner, wie finden Textil und Elektronik idealerweise zusammen?

Achim Pörtner: Smart Textiles sind ein neuer, vielversprechender Milliarden-Markt, der an die Innovationen neue Anforderungen stellt. Dabei müssen für das Zukunftsprodukt zwei ganz unterschiedliche Industrien zueinanderfinden. Das klassisch-tradierte Elektronikdenken und das Beste aus der Elektronik first ist bei Smart Textiles-Entwicklungen in der Regel nicht zielführend. Warum? Wir haben im späteren Textilprodukt verschiedene Restriktionen zu beachten, davon sind Flexibilität, Dehnbarkeit, Miniaturisierung, Modularisierung und Waschbarkeit die wesentlichen. Auch die Simplifizierung – also das Prinzip des Weglassens – spielt mit Blick auf die Nutzerfreundlichkeit der jeweiligen Entwicklung ebenfalls das Schrittmaß von Anfang an. Bei der Elektronik am Textil, so unsere Erfahrung, kommt es primär nicht auf das „Höher, Schneller, Weiter & Leistungsfähiger“ an. Interessante elektrotechnische Herausforderungen sind für uns im Bereich der Sensorik inklusive der entsprechenden Sensorkomponenten und bei IoT-Ermöglichung im Textil (sinnvoll im Textil zu integrierende Wireless-Kommunikationselemente) zu finden.

textile network: Sie sind also direkt ab Ideenfindung mit im Boot?

Achim Pörtner: Lunative entwickelt als „One-Stop“-Partner auf Basis der eigenen „Smart Light Wear Technology“ und einem breiten Sortiment an smarten Komponenten, leitenden Textilien und neuen Produktionstechnologien für jeden individuellen Bedarf die richtige smarte Lösung. Am Beispiel eines smarten, interaktiven Workwear-Handschuhs lässt sich belegen, wie sinnvoll eine Zusammenarbeit ab Idee sein kann: Das Konzept dafür war zunächst rein elektrotechnisch geprägt – also ohne Benutzerführung mit den entsprechenden Funktionen, die der Arbeiter als späterer Anwender aus der nichttechnischen Sicht für wichtig erachtet. Diese wichtige Seite der Einbettung des neuen Produkts in die Industrie- und Logistikumgebung wurde bei der ersten, primär technischen Konzeption, schlichtweg vergessen. Von Trageversuchen im jeweiligen Usecase, die wir bei der Produktentwicklung für absolut notwendig erachten, war zunächst auch keine Rede.

textile network: Die Benutzerseite muss also von Anfang an einbezogen werden?

Achim Pörtner: Genau, denn bleibt sie außen vor, geht ein so konzipiertes Tool am tatsächlichen Nutzerbedarf vorbei. Wann, wo und wie lange arbeitet der Worker mit dem Handschuh, welche Begleiterscheinungen gibt es während des Tragens sowie davor/danach, bei welchen Arbeitsabläufen wirkt er mit seiner Sensorik unterstützend, wo dagegen stört das neue Arbeitsmittel? Das sind Fragen, die vorher mit Blick auf die technischen, mechanischen und IT-Ablaufsysteme ebenso beantwortet werden müssen wie die simplen Fragen, wie und in welchen Intervallen der Handschuh gereinigt wird bzw. seine Akkus wieder aufgeladen werden können. Von den unterschiedlichen Nutzergruppen will ich hier gar nicht erst reden…

textile network: Wohin geht die Reise bei Workwear mit eTextiles?

Achim Pörtner: Auf der A+A kürzlich in Düsseldorf haben wir Schutzausrüstungen und Anwendungsfälle mit smarten Lichtkommunikations-Szenarien im Umfeld folgender Funktionen gezeigt: Bei schlechten Sichtbedingungen und Dunkelheit leuchtet die Workwear automatisch auf bzw. verändert ihr Leuchtverhalten. Bei Betreten von „No-go-Areas“ signalisieren Teile der Arbeitskleidung: Bis hier und nicht weiter! Im dritten Fall kommuniziert die Arbeitsschutzbekleidung intelligent und selbsttägig mit Mitarbeitern bzw. dem Arbeitsumfeld. Im nächsten Jahrzehnt ist zu erwarten, dass die heute im Smartphone integrierten Hauptfunktionen für das tägliches Verhalten ins Textil integriert werden: flexibel und waschbar. Solche klassischen Metafunktionen wie on/off, hoch/runter, bestätigen/ablehnen usw. werden über die Arbeitsbekleidung bedienbar. Nur noch für Detailangaben wird man dann ein klassisches smartes System benötigen. Auch energetisch wird es schrittweise in den nächsten fünf bis zehn Jahren in Richtung autonomer Systeme gehen.

textile network: Wie muss man sich Ihre Art von Arbeit vorstellen?

Achim Pörtner: Als Technologiepionier beherrschen wir Licht, Sensorik, Kommunikation und Aktorik im Texti und arbeiten an recht anspruchsvollen Kundenprojekten mit gleichzeitig fünf, sechs verschiedenen Funktionalitäten im und auf dem Textil. Um beim Anwendungsfall Berufs- und Arbeitsschutzbekleidung zu bleiben. Die Workwear der nahen Zukunft leuchtet (im Bedarfsfall), misst, klimatisiert, informiert, kommuniziert oder übermittelt Parameter – von Mitarbeiter zu Mitarbeiter, vom Vor-Ort-Arbeiter zum Vorarbeiter oder zur Leitstelle. Basis für diese interaktive Kleidung sind die von uns in drei Jahren Forschungs- und Entwicklungsarbeit geschaffenen „Luna Light Wear Technology“. Sie machen an der Arbeitskleidung zum Beispiel Sensordaten, zu große Hitze oder überhöhte Gaskonzentration über entsprechende Lichtkommunikation automatisiert sichtbar.

textile network: Ist Industriedigitalisierung die nächste große Herausforderung für Smart Textiles?

Achim Pörtner: Die zweite Haut des Menschen rückt immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Industriedigitalisierung. Alles wird rund um 4.0 digital erfassbar: Maschinen, Geräte, Fahrzeuge, Produkte. Der einzige, der im Moment noch außen vor ist, ist der Mensch mit seiner Kleidung. In Verbindung mit 4.0-Abläufen zu den Stichworten Warehousing und Logistik geht es via Smart Textiles um die Optimierung von allen Prozessen; das ist auch bei der Lieferung der Waren bis zum Kunden der Fall. Ein weiteres großes Anwendungsfeld für interaktive Jacken an der Schnittstelle zwischen 4.0 und IoT sind Sicherheitsbereiche zum Beispiel großer Chemiefirmen, bei deren Zutritt sich Mitarbeiter künftig an sogenannten „weichen“ Schranken über intelligente Kleidung identifizieren können.

Herr Pörtner, vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen für textile network stellte Hans-Werner Oertel.