18.08.20 – In Zeiten von Corona – Interview — read English version

RWTH Aachen University (ITA): Quo vadis, Textilindustrie?

Ein lösungsorientierter Diskurs! Unser ausführliches Interview mit Wissenschaftlern der RWTH Aachen University über die Zukunft unserer Branche.

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Ein lösungsorientierter Diskurs! textile network führte ein ausführliches Interview mit Wissenschaftlern der RWTH Aachen University über die Zukunft unserer Branche und über die Auswirkungen der Corona-Krise. © alesmunt/stock.adobe.com

 
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Prof. Dr. Frank Piller © RWTH Aachen

 
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Unsere Interviewpartner:

Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen University (ITA):

  • Prof. Dr. Thomas Gries, Direktor

  • Daniel Bücher, Teamleiter Wertschöpfungsmanagement

  • Thomas Köhler, Programm-Manager Biotexfuture

ITA Technologietransfer GmbH (ITA GmbH):

  • Markus Beckmann, Geschäftsführer

Institut für Technologie- und Innovationsmanagement der RWTH Aachen University (RWTH TIM):

  • Prof. Dr. Frank Piller, Direktor

  • Christian Gülpen, Bereichsleiter Digitalisierung

Welche Auswirkungen sehen Sie während der Corona-Krise?

Prof. Dr. Frank Piller (RWTH TIM): Wir beobachten insbesondere drei Effekte: Erstens natürlich eine stark negative und teils dramatische Umsatzprognose in vielen Bereichen. Laut einer Studie der DIHK rechnen 78 Prozent der Unternehmen für 2020 mit Einbrüchen von bis zu 50 Prozent und mehr. Ursache ist insbesondere das Wegbrechen von Aufträgen und eine insgesamt geringere Nachfrage, die in manchen Sektoren wie etwa der Gastronomie und deren Zulieferbranchen wohl auch nur sehr begrenzt „nachgeholt“ werden wird. Gleichzeitig sehen wir, insbesondere bei großen Unternehmen, starke Einsparungen, auch bei zukunftskritischen Themen wie Innovations-Investitionen. Denn, und damit kommen wir zum dritten Aspekt, die Krise hat zwar das Thema „Change“ und neue Geschäftsmodelle wieder stark auf die (CEO-)Agenda gehoben, erfolgreiches systematisches Innovieren (also jenseits von Glück und Zufall) braucht aber auch die notwendigen Ressourcen. Und genau hier machen viele Unternehmen (wieder!) den Fehler, an der falschen Stelle zu sparen.

Welche Auswirkung hat das auf die Textilindustrie?

Prof. Dr. Thomas Gries (ITA): Die Textilindustrie hat im März und April einen Auftragseinbruch um mehr als 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum erlebt. Nicht nur für die Bekleidungshändler, sondern auch für die Bekleidungshersteller und die gesamte Lieferkette. Die Krise hat alle getroffen. Die Verkäufe laufen nun langsam wieder an, aber das Defizit holen wir nicht wieder auf. Jetzt ist die Frage, wer die Produktion am schnellsten wieder hochfahren kann und wie stark eine zweite Welle ausfällt. Im Ganzen erwarte ich keine kurzfristige Erholung. Die Märkte und Lieferketten werden sich dramatischer ändern als in der Finanzkrise vor zwölf Jahren.

Welche Auswirkung hat das auf die technischen Textilien?

Markus Beckmann (ITA GmbH): Da die technischen Textilen in der Regel in Investitionsgüter einfließen, unterliegen diese ebenfalls der dramatischen Umsatzprognose, die schon oben angesprochen wurden. Nehmen wir als Beispiel Automotive, dort sind derzeit Auftragsrückgänge von ca. 30 Prozent zu verzeichnen, Airbus produziert wesentliche Teile seiner Flugzeuge gerade auf Halde, usw., und niemand kann derzeit vorhersagen auf welchem Niveau sich die Märkte nach Covid einpendeln werden oder wie lange es brauchen wird, alte Niveaus wieder zu erreichen.

Welche Auswirkung hat das auf den internen Maschinenbau?

Markus Beckmann (ITA GmbH): Der interne Maschinenbau hängt naturgemäß in der Nahrungskette an den Bedarfen der darauf hergestellten Güter und ist aus diesem Grund ebenfalls stark eingebrochen. Dies ist nicht nur in den technischen Textilien, sondern auch bei allen Maschinenbauunternehmen mit Bezug zu textilen Märkten zu beobachten – ein branchenweiter Trend. Die Marktvolumina in vielen Branchen sind also aufgrund der geringeren Nachfrage kleiner geworden.

Es bleibt abzuwarten, wie eine Erholung stattfinden wird. Nun kommt es also darauf an, ob an Bestehendem festgehalten wird oder ob Innovationen zu einer Erweiterung eigener Marktanteile erarbeitet werden können.

Was kann die Lösung aus der Krise sein?

Prof. Dr. Thomas Gries: Die Menschen sind massiv verunsichert in puncto gesundheitliche und wirtschaftliche Existenz. Die Folge: nicht existenznotwendige Güter werden weniger nachgefragt wie Textilien, Fernreisen, Autos, ... Das hat direkt und indirekt Auswirkungen auf die Textilproduktion. Gleichzeitig erachten die Menschen die klimatische Bedrohung nun noch höher. Die Produktion und der Handel müssen auf diese Ängste glaubhafte und positive Antworten haben – „gleich so ... weiter so“ ist keine. Neue kundenorientierte Lösungen sind gefragt! Nur in der firmenspezifischen Kombination von Bioökonomie und Digitalisierung kann die Antwort liegen. Hier suchen wir Lösungen mit unseren Partnern für unsere Kunden.

Gibt es Erfahrungen aus der Historie, die helfen können, die Krise zu bewältigen?

Christian Gülpen (RWTH TIM): Spannend ist ein Vergleich mit der letzten großen Finanzkrise 2008: In dieser Zeit weltweiter wirtschaftlicher Spannungen sind viele derjenigen Unternehmen entstanden, die wir heute als Digital-Pioniere und Geschäftsmodell-Vorbilder bewundern: AirBnB, Zalando, Groupon, Uber und andere sind auf dem oftmals fruchtbaren Nährboden der Krise gegründet worden. Deren Erfolg beruht natürlich nicht nur auf einem zusammengebrochenen Finanzmarkt. Aber erstens ist der Druck, eine neue Geschäftsidee nicht nur zu denken, sondern auch umzusetzen, größer, wenn etablierte Märkte bedroht sind. Und zweitens sind gerade Sharing-Plattformen wie Uber und AirBnB dann besonders attraktiv, wenn potenzielle Kunden (beispielsweise in Folge von Kurzarbeit) verstärkt auf ihr Geld achten müssen – oder bereit sind, auf einer Plattform selbst etwas dazuzuverdienen. Aber: Diese Entwicklungen sind überwiegend von innovativen Gründern ausgegangen, nicht von den etablierten Unternehmen. Das liegt u. a. an fehlender Investitionsbereitschaft oder Innovationskompetenz, und häufig auch an festgefahrenen Strukturen und organisationaler Trägheit. Unser Rat deshalb: gerade in der Krise auch mal ganz neu denken, Experimente erlauben, und Geld für gemeinsame Zukunfts-Innovationen bereitstellen.

Gibt es neue Randbedingungen zur Bewältigung der Krise?

Prof. Dr. Frank Piller (RWTH TIM): Die nächsten ein bis zwei Jahre werden sicherlich sehr spannend. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir Unternehmen einerseits, aber auch die sie verbindenden Wertschöpfungs- und Logistiknetzwerke andererseits für die Zukunft resilienter aufstellen. Damit ist nicht nur Robustheit im Sinne physischer Redundanz – also zwei Produktionsstandorte statt einem – gemeint. Wir müssen uns auch befähigen, sich verändernde Umweltbedingungen besser zu antizipieren, geeignet zu reagieren und, ganz wichtig, daraus zu lernen und wirklichen Wandel zu vollziehen. Das gilt sowohl für „unvorhersehbare“ Diskontinuitäten wie Corona als auch für absehbaren Wandel, z. B. hin zu mehr Sharing, mehr Nachhaltigkeit, einen reflektierten Umgang mit Lebensmitteln usw. Besonders erfolgreich werden wahrscheinlich solche Unternehmen sein, die Technologien wie KI und digitale Plattformen dazu nutzen, flexible, agile und resiliente Wertschöpfungs-Ökosysteme zu bilden, und in diesen auf Basis fairer, nachhaltiger Geschäftsmodelle gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Dazu müssen Unternehmen jetzt schnell (aber systematisch!) darüber nachdenken, wie ein solches Netzwerk für sie aussehen kann, dann die notwendigen Kompetenzen auf- und Vertrauensbarrieren abbauen, und zügig implementieren. Eine große Aufgabe, die unsere Wirtschaft und gerade unser Mittelstand aber gemeinsam hervorragend stemmen kann!

Corona hat gezeigt, wie wichtig es ist flexibel auf neue Marktbedingungen reagieren zu können. Wie wichtig ist hierfür die Textilforschung?

Daniel Bücher (ITA): Die Textilindustrie ist sehr stark mittelständisch geprägt. Forschung ist teuer und mit Risiken behaftet. Die Situation hat gezeigt, dass die Branche Innovationen für das Überleben braucht. Innovationen durch die Digitalisierung der Produktion, aber auch durch neue Produkte und Prozesse, werden weiter eine Rolle für die Industrie spielen. Die angewandte Forschung unterstützt Firmen bei diesen Herausforderungen und übernimmt einen Teil der Risiken. Die Forschung ist somit ein Teil der Innovationssicherung der Branche.

Durch Corona sind in allen Branchen die bestehenden Defizite besonders deutlich geworden. Worin bestehen die gravierendsten Defizite in der Textilindustrie?

Markus Beckmann (ITA GmbH): Im Maschinenbau liegt ein zentrales Defizit sicherlich in der international ausgerichteten Supply Chain, die durch den Shutdown abrupt unterbrochen wurde. Alternative Lieferunternehmen lassen sich nun mal nicht aus dem Nichts aufbauen, sondern sind in der Regel ein Ergebnis strategischer Sourcing-Aktivitäten. Die Resilienz einzelner Unternehmungen ist bekanntlich so gut wie das schwächste Glied in der Kette und bietet für die Zukunft sicherlich einige Fragestellungen, ob im Offshoring das alleinige strategische Mittel für weitere Krisenabsicherungen zu finden ist.

Welche Auswirkung wird die Corona-Krise generell auf die internationale Textil- und Bekleidungsindustrie haben?

Daniel Bücher (ITA): Ich denke, die Covid-19-Pandemie wird die bestehenden Veränderungen in der Industrie weiter beschleunigen. Die klassischen Geschäftsmodelle der Bekleidungshändler haben ausgedient. Die Beispiele der Insolvenzen von Esprit und Tom Tailor zeigen dies ganz deutlich. Der Online-Handel wird weiter zunehmen und die Lieferketten noch kurzlebiger werden. Das ist aber auch eine Chance für die Bekleidungsindustrie in Europa. Die Textilindustrie hingegen wird die Krise besser überstehen, auch wenn sie Zulieferindustrie für die Automobilindustrie ist. Neue Märkte und Innovationen werden aus der Krise entstehen. Insgesamt denke ich, dass jede Krise auch immer eine Chance bietet, besonders für uns in Deutschland, wo die gesellschaftlichen Auswirkungen relativ gering sind.

Wird es eine gesteigerte Rückkehr der Produktion nach Europa geben?

Markus Beckmann (ITA GmbH): Ein klares Jein ..., weil in Kürze ein harter Wettbewerb um die verbliebenen Marktvolumina stattfinden wird, der sicherlich auch Marge kostet und somit Produktkosten neben der oben genannten Resilienz in den Fokus rücken wird. Wenn in der EU Produktion eine Chance haben wird, so wird das nur dort gelingen, wo hohe Lohnkosten keine wesentliche Rolle an den Gesamtkosten spielen oder andere innovative Faktoren wie auch die Digitalisierung von Fertigungsprozessen einen entscheidenden Einfluss nehmen können.

Wie bewerten Sie das Thema Nachhaltigkeit in der textilen Kette – wird dies künftig wesentlich ernster genommen werden?

Thomas Köhler (ITA): Einerseits ist für die Textilindustrie der Einsatz nachwachsender Rohstoffe (z. B. Naturfasern) alltägliche Routine. Andererseits machen erdölbasierte Chemiefasern mit ca. 80 Mio. t jährlich den weit größeren Anteil (2/3) aus.

Fragt man die Bevölkerung, so ist eine klare Mehrheit für den Ersatz erdölbasierter Kunststoffe durch Alternativen aus nachwachsenden Rohstoffen. Forderungen von Konsumenten nach einem Eingreifen durch die Politik sind oft lautstark zu hören. Die Bereitschaft, selbst zu handeln, ist deutlich schwächer ausgeprägt.

Für die Textilindustrie ist das schwierig. Wer nachhaltige Textilien herstellen will, muss die Wertschöpfungskette vom Rohstoff bis zum Endprodukt ganzheitlich betrachten – eine Herausforderung. Aus diesem Zweck fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung aktuell den Innovationsraum Biotexfuture. Nachhaltigkeit in der textilen Kette wird auch in Zukunft ein ernst genommenes Thema bleiben.

Vielen Dank für das spannende Gespräch!

Die Fragen für textile network stellten Iris Schlomski sowie das ITA.