11.10.21 – Vier Fragen an Han Bekke — read English version
„Die Bekleidungslieferkette bedarf einer Neustrukturierung ...“
Han Bekke ist ein sowohl aufmerksamer als auch aufgeschlossener Gesprächspartner – im wahrsten Sinne des Wortes: Ohne Zurückhaltung, jedoch reflektiert, beantwortet er die brennenden Fragen, die Yvonne Heinen-Foudeh von textile network für ihn bereit hat. Wir sprechen mit dem derzeitigen IAF-Präsidenten während seiner Italienreise mit Stopp in Rom, der Ewigen Stadt.
textile network: Wir durchleben eine Zeit der Ungewissheit – der Konsummarkt steht auf wackeligen Beinen, die globale Lieferkette scheint instabiler denn je. Inwieweit lassen sich diese Herausforderungen Ihrer Ansicht nach mit den Auswirkungen der Pandemie begründen und in welchem Maß bestanden diese Probleme bereits zuvor in der Bekleidungsindustrie?
Han Bekke: Es ist schwierig, das genau zu beziffern, aber aus meiner Sicht hat das Coronavirus ganz klar eine noch nie dagewesene Krise ausgelöst, die noch immer in der Wirtschaft und in der Gesellschaft zu spüren ist. Die Lieferkette der Bekleidungsindustrie war in großem Maß davon betroffen und erholt sich angesichts dessen, dass die Pandemie mit neuen Varianten wie Delta noch nicht überstanden ist, nur langsam. Sicherheit und Gesundheit haben natürlich oberste Priorität, aber andererseits muss auch die Wirtschaft wieder angekurbelt werden.
Es ist allerdings auch Tatsache, dass unsere Branche noch immer mit den Auswirkungen der Finanzkrise 2008 zu kämpfen hatte, und die Notwendigkeit einer Neustrukturierung der Lieferkette wurde durch die Corona-Pandemie nur noch verstärkt. Meiner Meinung nach bedarf es einer Neugewichtung des Angebot-Nachfrage-Verhältnisses. Die aktuelle Push-Markt-Strategie setzt uns unter großen Preisdruck und wir sollten einen Wechsel zur Pull-Markt-Strategie verfolgen. Ich sehe großes Potential in einem angepassten Orderrhythmus, neuen Beschaffungsstrategien, der Umstellung auf Smart Factories zur Produktivitätssteigerung und Kostenoptimierung, der Erstellung eines Omnichannel-Vertriebsplans umfassend datengetriebenen E-Commerce und schließlich dem Ausbau nachhaltiger Schritte für eine saubere Umwelt.
Schnelligkeit bei der Markteinführung ist zwar oft der Schlüssel zum Erfolg, doch sollten sowohl die Risiken als auch die Wertschöpfung gerechter über die Lieferkette hinweg verteilt werden. Auf unserem Weg, all diese Ziele zu erreichen, ist eine gute Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen allen Beteiligten wichtiger denn je.
textile network: Die Maxime der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Nachhaltigkeit finden verstärkt Berücksichtigung auf nationaler und globaler Ebene, nicht zuletzt auch auf EU-Ebene unter dem Green Deal. Das ist eine willkommene und wichtige Entwicklung. Unternehmerisches Umdenken und verantwortungsbewusstes Handeln für eine nachhaltige Zukunft sowohl auf Herstellungs- als auch Konsumseite ist ein komplexer Prozess, der vor allem auch eine Herausforderung für die Bekleidungsindustrie ist. Transparenz, Rückverfolgbarkeit und Zusammenarbeit über die Lieferkette hinweg sind hier einige der wichtigsten Stichworte und Ziele, deren effiziente Umsetzung nur mithilfe neuer Technologien möglich ist. Wo sehen Sie hier die Rolle und Aufgaben der IAF, der International Apparel Federation, auf kurze und lange Sicht, um diese Veränderungsprozesse voranzutreiben?
Han Bekke: Die IAF ist seit Jahren bemüht, ihre Mitglieder, nationale Verbände der Bekleidungs- und Textilindustrie, über die wachsende Notwendigkeit einer nachhaltigeren und umweltschonenderen Lieferkette aufzuklären und sie dabei zu unterstützen, diese Informationen an ihre jeweiligen Mitgliedsunternehmen weiterzuleiten. Druck zur Veränderung kommt sowohl von NGOs und der Öffentlichkeit, aber zunehmend auch von Regierungsseite in Form von neuen Gesetzgebungen zu Rückverfolgbarkeit und Zirkularität und/oder die Kombination beider Ansätze in Handelsabkommen zum Beispiel.
Transparenz ist zu einem besonders wichtigen Thema geworden. Tier-1-Zulieferer sehen sich dabei unter Druck gesetzt, haben hier aber auch die Möglichkeit, eine wichtige Rolle in der Bereitstellung von mehr Transparenz in der weiteren Lieferkette für Kunden einzunehmen. Abgesehen vom Güter- und Finanzfluss entlang der Lieferkette wird auch der Datenfluss ein Schlüsselfaktor sein. Die Industrie ist gefordert, mehr zu tun, und schneller, um die Transparenz über die Lieferkette hinweg zu gewährleisten. Es bedarf einem weitreichenden und verlässlichen – und gegenseitigen – Informationsaustausch neben dem Fluss von Gütern und Geldmitteln.
Die IAF verfolgt dieses Ziel aktiv und macht sich für eine engere Zusammenarbeit auf globaler Ebene zwischen der Bekleidungs- und Textilindustrie unter Einführung von Best Practice stark. Damit können auch alle Erfahrungen und Erfolge zu einem übergreifenden Erfolgsrezept kombiniert werden. Wir müssen alle an einem gemeinsamen Strang ziehen, um eine grüne Zukunft für den Planeten und die Branche zu sichern. Versprechen, den CO2-Ausstoß zu reduzieren, sind willkommen, reichen aber nicht aus. Sowohl Kosten als auch Nutzen müssen von allen Beteiligten entlang der Lieferkette getragen und gespürt werden.
Die IAF arbeitet daran, mehr Herstellerbetriebe an den globalen Tisch zu bringen, damit diese die Neustrukturierung der Bekleidungsbranche hinsichtlich einer besseren Umweltbilanz aktiv mitgestalten können. Es lässt sich ein klarer Trend unter Konsumenten beobachten, dass diese zunehmend an dem Wo und Wie der Kleiderherstellung interessiert sind. Diese Fragen stehen nicht zuletzt im Zeichen eines wachsenden Umweltbewusstseins, das im Weiteren das Kaufverhalten beeinflusst. Wir sehen einen Wandel von Fast Fashion zu Slow Fashion. Das heißt, Leute sind bereit, mehr für hochwertigere Artikel mit einer längeren Lebensdauer auszugeben und/oder setzen auf Second-Hand-Kleidung.
Gleichzeitig wächst auch die Nachfrage am anderen Ende des Konsumspektrums, wo das Internet alle Wünsche sofort erfüllt und Schnelligkeit das oberste Prinzip ist. In beiden Fällen sehe ich großes Lösungspotential für eine nachhaltigere Zukunft in der marktnahen Produktion. Reshoring- oder Nearshoring-Strategien sorgen dafür, dass wir mit den Konsumerwartungen Schritt halten können.
textile network: Wir befinden uns an einem unaufhaltbaren Tipping-Point, der feinfühliges Änderungsmanagement, einen agilen Führungsstil, Motivationsstärke zur Implementierung neuer Verfahren und das Rekrutieren geeigneter Arbeitskräfte mit den nötigen Fähigkeiten bedarf. Eine weitere Voraussetzung sind tiefgehende Fachkenntnisse der technologischen Möglichkeiten, vom Einsatz erweiterter Realität (Augmented Reality) für eine komplett neuartige Bestell- und Einkaufserfahrung, dem Konzept des digitalen Zwillings für die intelligente Fertigung, weiteren KI-Anwendungen, datenbasierten Algorithmen inklusive Vorhersagemodellen, bis zu tiefem Lernen und Mensch-Maschine-Schnittstellen im Sinne der Industrie 4.0. Wohin führen diese Entwicklungen langfristig für Unternehmen und auch Konsumenten? Wird die globale Modebranche zunehmend von Neu- und Quereinsteigern gestaltet? Sind traditionelle Bekleidungsunternehmen anpassungsfähig genug, um diese Veränderungen zu meistern?
Han Bekke: Die Bekleidungsindustrie befindet sich bereits seit Jahren in einer preisgesteuerten Abwärtsspirale. Wir können dieser Spirale nur durch Mut zur Veränderung entkommen. Der ständige Preisdruck nach unten ist eine Sackgasse und macht andere Probleme, wie Überbestand, Umweltbelastung und Arbeitsbedingungen nur noch schlimmer.
Es ist an der Zeit, mit dem Niedrigpreiswahn der Modebranche abzurechnen und stattdessen in effizientere Lieferketten zu investieren, die Unsicherheiten gegenüber beständiger sind und nachfragebasiert produzieren, anstatt den Markt mit unerwünschten Artikeln zu überfüllen. Digitalisierung ist hier die große Chance, die Branche zukunftsfähig zu machen. Und zwar nicht nur in Sachen Schnelligkeit und Flexibilität, sondern weil sie zwangsweise die nötige Umstrukturierung von Arbeitsprozessen über die gesamte Lieferkette hinweg mit sich bringt, von Markenunternehmen, Einzelhändlern und Bekleidungs- und Textilherstellern bis zu allen Partnerunternehmen in der Zulieferung. So können durch digitalisierte Design- und Entwicklungsprozesse zum Beispiel alle Zulieferer, auch Tier 2 und Tier 3, von Anfang an mit eingebunden werden, was den Ablauf insgesamt flexibler macht. Dazu bedarf es jedoch sowohl einer systemweiten Neugestaltung traditioneller Design- und Entwicklungsprozesse als auch kollaborativer statt konträrer Beziehungen über die Lieferkette hinweg.
Die ertragreichen Vorzüge einer branchenweiten Digitalisierung sind vielversprechend, können jedoch nicht ohne aufwändige, unausweichliche, aber wirkungsvolle Prozessänderungen erreicht werden. Dieser Zusammenhang zwischen Investition und Ergebnis ist nicht außer Acht zu lassen. Verfügbare Technologien machen die digitale Transformation möglich und sie wird zusätzlich durch die Corona-Krise vorangetrieben. Diese Transformation ist aber auch nur möglich, wenn die gesamte Branche an einem Strang zieht. Dazu gehört natürlich der Einzelhandel, aber ich bin zunehmend der Überzeugung, dass der Schlüssel zur digitalen Zukunft in den Händen der Bekleidungsherstellungsunternehmen und Stofflieferanten liegt. Technologie ist der Schlüssel, doch die Tür zum erfolgreichen Branchenwandel muss von den Menschen, die Mode schaffen, geöffnet werden.
Großunternehmen nehmen eine wichtige Vorreiterrolle ein, doch ohne die unerschöpfliche Arbeit unzähliger Kleinunternehmen bleibt der Wandel nur ein Traum. Die notwendigen Umstrukturierungen sind kein leichtes Unterfangen, weshalb die Entwicklungen in den kommenden Jahren so wegbereitend sein werden. Die IAF ist stolz darauf, hier durch unsere Fähigkeit, Interessensvertreter an einen Tisch zu bringen, und als globale Kommunikationsplattform und mit unseren Projekten zu dieser Transformation beitragen zu können. Hinter den geschlossenen Türen tut sich wieder was. Wir sehen die ersten Lebenszeichen einer Branche, die stärker, intelligenter und nachhaltiger in den (Neu)Startlöchern steht, angetrieben von Daten und Digitalisierung, unter bewusstem Einsatz von Kernfertigkeiten und neuen Fähigkeiten und auf Basis kollaborativer und fairer Beziehungen zu Partnern in der Lieferkette.
Ja, diese Veränderungen können auch die Tür für neue Akteure öffnen. Ich bin positiv gespannt auf den frischen Wind, den die nächste Generation an Mode- und Textilstudierenden in die Branche bläst – neue Ansichten und Ansätze zu Geschäftsmodellen, Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft. In manchen Fällen entstehen daraus Start-ups, denen wir offen gegenüberstehen sollten, sie als Inspiration für eine Neuevaluierung unserer Lieferketten wahrnehmen.
textile network: Gibt es weitere Beobachtungen, die Sie mit der Bekleidungsindustrie teilen möchten?
Han Bekke: Eine meiner größten Sorgen ist, dass wir kurzfristig einen Liquiditätsengpass in der Lieferkette sehen. Das sollte jedoch niemals einseitig durch Auftragsstornierungen oder Zahlungsbedingungsänderungen von 30 auf 60 oder von 60 auf 90 oder sogar 120 Tage gelöst werden. Die IAF hat seit Beginn der Coronakrise klar Stellung bezogen und über Pressemitteilungen und in direkter Kommunikation mit Unternehmen zu Solidarität und Kooperation aufgerufen und davor gewarnt, die Probleme auf andere Stellen in der Lieferkette abzuschieben. Das Verhalten, das hier von einigen an den Tag gelegt wurde, zeigt, dass trotz der Bandbreite an bereits beschlossenen und weiter bevorstehenden Nachhaltigkeitsabkommen und -zielen, noch immer der Grundsatz, die billigsten Produktion hat Vorrang, herrscht. Meiner Meinung nach ist das eine Sackgasse. Wir brauchen Veränderung!
Herr Bekke, vielen Dank für Ihre aufschlussreichen Antworten!
Die Fragen wurden von Yvonne Heinen-Foudeh im Auftrag von textile network gestellt.