12.04.22 – Special Digitalisierung – Interview mit Mareike Giebeler

„Eine der größten Transformationen unserer Industrie“

Den Auftakt zu unserem Special „Digitalisierung in der Textil- und Modeindustrie“ macht ein Interview mit Mareike Giebeler, Leiterin im Bereich „Digitale Innovationen und Start-ups“ beim Gesamtverband textil+mode.

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Mareike Giebeler, Leitung Digitale Innovationen und Start-ups beim Gesamtverband textil+mode, sieht großes Potenzial in den deutschen Textilunternehmen: Wenn sie ihre Qualität und Werthaltigkeit „mit neuen digitalen Geschäftsmodellen verbinden können, steigt die Chance, gestärkt aus der Krise zu gehen.“ © textil+mode

 
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Gegenwärtig werden Produktteile manuell einem Bearbeitungsprozess zugeführt. Der Sondermaschinenbauer BEAS entwickelt Lösungen für die Textilindustrie, um künftig das gezielte Ablegen von Bauteilen mit 3D-Kamera und Robotik im Fertigungsprozess zu ermöglichen. © BEAS Technology

 

Die deutsche Textil- und Modeindustrie ist mitten in der digitalen Transformation. textile network beleuchtet in diesem Jahr in vier Teilen, wie sich die Branche der digitalen Transformation stellt, welche neuen Geschäftsmodelle entstehen und welche Zukunftsperspektiven die deutsche Textil- und Modebranche mit der Digitalisierung verbindet. Zum Auftakt sprachen wir mit Mareike Giebeler vom Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie. Sie leitet den Themenbereich Digitale Innovationen und Start-ups.

textile network: Frau Giebeler, Digitalisierung wird immer dann besonders anschaulich, wenn es konkret wird. Mit welchem konkreten Projekt in Sachen Digitalisierung sind Sie ins Verbandsjahr gestartet?

Mareike Giebeler: In der Tat mit einem Großprojekt, das meine beiden Themenbereiche „Digitale Innovationen“ und „Start-ups“ zusammenbringt. Wir haben bei textil+mode eine Online-Konferenz veranstaltet, die sich mit der Nachhaltigkeit in den Lieferketten beschäftigt hat. Dabei war ein Konferenz-Schwerpunkt, wie die Unternehmen ihr Lieferkettenmanagement möglichst digital und nachhaltig organisieren können. Dazu haben wir einen Start-up-Pitch veranstaltet. Und es wird Sie nicht überraschen, dass es gerade im Lieferkettenmanagement jede Menge innovative digitale Geschäftsmodelle gibt.

textile network: Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Mareike Giebeler: Was mich begeistert, ist die Anwendung und Kombination neuer Technologien. Beispielsweise eine Plattform, auf der alle Informationen zur Lieferkette an einer Stelle gesammelt werden. Wenn dies gelingt, kann ich als Kundin in einem Laden den QR-Code einer Bluse scannen und die gesamte Lieferkette visuell nachverfolgen – bis zum Ursprung der Rohmaterialien – und dabei handelt es sich um komplexe weit verzweigte Lieferketten. Diese Schritt für Schritt nachzuvollziehen, ist eine enorme Leistung. Der Kunde kann damit eine qualifizierte Kaufentscheidung treffen und für Textilhersteller eröffnen sich noch bessere Möglichkeiten zur Qualitätskontrolle. Dabei erweist sich die Blockchain-Technologie als manipulationssichere Lösung. Start-ups haben hier spannende Verfahren entwickelt, die für unsere Mittelständler sehr interessant sind.

textile network: Wie digital würden Sie die deutsche Textil- und Modeindustrie beschreiben?

Mareike Giebeler: Das ist individuell ganz verschieden. Deshalb können wir nicht alle unserer 1.400 Mitgliedsunternehmen über einen Kamm scheren. Wir stellen in unserem digitalen Kompetenzzentrum „Textil vernetzt“ fest, dass sich die Unternehmen inzwischen sehr intensiv mit der Digitalisierung in den unterschiedlichsten Bereichen beschäftigen. Das beginnt mit der Automatisierung und Robotik in der Fertigung, dem Austausch und der Nutzung von Daten, in der Ausbildung, in der Fort- und Weiterbildung der Mitarbeitenden, aber inzwischen auch mit Künstlicher Intelligenz.

textile network: Welche textilen Entwicklungen sehen Sie in Zukunft im Bereich der Künstlichen Intelligenz?

Mareike Giebeler: Da sehe ich ein sehr weites Feld. Textilien können Daten sammeln und dabei lernen, wie sie immer besser werden. Nehmen Sie z. B. smarte Bodenbeläge, die genau die Käuferbewegungen in einem Laden messen und aus denen Sie Rückschlüsse ziehen können, wie Sie Ihren Laden am besten einrichten. Mit KI-Methoden ist es möglich, Körperformen automatisch zu klassifizieren und damit die Entwicklung von perfekt sitzender Bekleidung zu verbessern. Oder sie ermöglicht trainierbare Verfahren für eine automatisierte visuelle Qualitätskontrolle, wenn es darum geht, Fehler in textilen Oberflächen zu erkennen und einzuordnen. KI bietet zudem eine neue Dimension individualisierter Kundenansprache. Damit können z. B. automatisch komplette Mode-Outfits nach individuellem Kundengeschmack zusammengestellt werden.

textile network: Ein großes Zukunftspotenzial sieht die Fachwelt seit Jahren im Bereich Smart Textiles. Täuscht mein Eindruck, dass die Entwicklung hier trotz dessen nicht ganz so schnell vorangeht?

Mareike Giebeler: Das sehe ich nicht so. Im Bereich Textilforschung und Digitalisierung passiert in den vergangenen Jahren so viel, dass Smart Textiles eben nur ein Teil des großen Wandels sind. Wir stecken mitten in einer der größten Transformationen unserer Industrie und hier kann der Werkstoff Textil einen enormen Beitrag leisten. Wer, wenn nicht unsere Branche, ist in der Lage diesen Umbruch zu gestalten. Schließlich gehört Wandel seit jeher zum Kern unserer Industrie. Wir sind eine der ältesten Industrien der Welt und vielleicht auch eine der Erfahrensten, wenn es um industrielle Umbrüche geht. Die Digitalisierung ist für uns mindestens so revolutionär wie die Erfindung der Dampfmaschine.

textile network: Und wer jetzt im übertragenen Sinne noch auf das Spinnrad setzt, hat verloren?

Mareike Giebeler (lacht): Sagen wir so: Wer jetzt schon fit ist und sein Unternehmen digitalisiert hat, kann sich überlegen, wo und wie er das Spinnrad ins Geschäftsmodell einbaut. Denn der Wunsch der Kundinnen und Kunden nach passgenauen, individualisierten, sinnlichen und nachhaltigen textilen Produkten wächst. Damit wächst auch die Anzahl der Geschäftsmodelle, die sehr erfolgreich Tradition und Moderne verbinden. Ganz besonders eindrucksvoll zeigen das immer wieder Familienunternehmen, in denen die jüngere Generation das Unternehmen digital aufstellt und die Gründergeneration ihr Wissen in Sachen textilem Know-how und Unternehmensführung einbringt. Wenn Sie so wollen, ist diese Kombination in vielerlei Hinsicht nachhaltig im besten Sinne.

textile network: Wir sind im dritten Jahr der Pandemie. Eine Erkenntnis ist, dass sich der digitale Wandel durch Corona beschleunigt hat. Stellen Sie das auch in der Textil- und Modebranche fest?

Mareike Giebeler: Ja, das lässt sich ohne Abstriche so feststellen. Viele unserer Unternehmen, gerade im Mode- und Bekleidungsbereich, mussten durch die Lockdowns dramatische Umsatzverluste einstecken. Viele Unternehmen rutschten in rote Zahlen, die sie in ihrer Firmengeschichte so noch nie gesehen haben. Viele haben die Krise aber auch genutzt, um sich strategisch neu aufzustellen und haben sich auf das konzentriert, was deutsche Textil- und Bekleidungsunternehmen können: Qualität und Werthaltigkeit. Und das ist keineswegs altmodisch, sondern top aktuell. Wenn Sie diese Fähigkeit noch mit neuen digitalen Geschäftsmodellen verbinden können, steigt die Chance, gestärkt aus der Krise zu gehen. Unterstützung in Sachen Digitalisierung bietet hier auch unser Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Textil vernetzt, das Unternehmen beim Ausbau ihrer digitalen Fitness begleitet.

textile network: Und wie vielen Unternehmen gelingt das?

Mareike Giebeler: Das wird sich 2022 zeigen. Das Bild der Branche ist zurzeit sehr uneinheitlich. Es gibt viele Unternehmen, die durch die Corona-Pandemie brutal gebeutelt wurden. Andere, beispielsweise Hersteller im medizinischen Bereich, verzeichnen Rekordjahre. Ausruhen kann sich aber keiner. Die Unternehmen stehen enorm unter Druck, was ihre Wettbewerbsfähigkeit angeht. Immer noch sind Lieferketten unterbrochen, die Rohstoffpreise und die Energiekosten in Deutschland erklimmen immer neue Höhen.

textile network: Das schafft Unsicherheiten ...

Mareike Giebeler: Ja, und vor allem schränkt es viele Unternehmen in ihren Investitionsentscheidungen ein. Wir können Wandel, wir können Kreislaufwirtschaft, wir haben Technologien, die auf dem Weg zur Klimaneutralität Innovationssprünge auslösen können. Und wir nutzen nicht nur digitale Innovationen, sondern entwickeln selbst neue digitale Geschäftsmodelle. Dafür müssen wir aber auch wettbewerbsfähig produzieren können. Und die Unternehmen brauchen die unternehmerischen Spielräume, um in den Wandel, also die Digitalisierung ihrer Unternehmen, investieren zu können. Dazu gehört auch der Abbau von Auflagen und Bürokratie und der Aufbau von leistungsfähigen digitalen Netzen und zwar überall in Deutschland.

textile network: Wie wichtig ist dafür, dass Gaia-X, das Projekt einer unabhängigen europäischen Cloud, gelingt?

Mareike Giebeler: Ich persönlich finde die Idee von Gaia-X faszinierend. Das Ziel, ein digital unabhängiges Ökosystem von cloudbasierten Diensten zu betreiben, ist unbestritten. Wir erleben im Moment aber, wie komplex es ist, eine solche Idee mit vielen Playern umzusetzen.

textile network: Deshalb beschäftigen Sie sich lieber mit Start-ups, die ihre Geschäftsideen ohne große Politik auf die Straße bringen.

Mareike Giebeler: In der Tat haben wir als Gesamtverband textil+mode sehr früh an Netzwerken mitgearbeitet und unser eigenes Netzwerk Tex Started aufgebaut, um mittelständische Industrie und Start-ups zusammenzubringen. Beide können ungeheuer viel voneinander lernen, so wie wir im Verband auch sehr eng mit unserer Textilforschung zusammenarbeiten. Zeiten des Umbruchs sind auch Zeiten des Ausprobierens, des Miteinander-Versuchens, auch des Scheiterns, aber damit auch des Lernens. Ich bin überzeugt, dass daraus die Kraft für wirklich Neues entsteht.