22.03.21 – Nachhaltigkeits-Startups – Folge 7: Shapematchr
Ziel Zero (7): Das Unmögliche wagen
Unnötiger Versand von Bekleidung sollte nicht noch zusätzlich für die Belastung von Ökosystemen sorgen. Innovative Start-ups zeigen Wege auf.
Der Gedanke fasziniert Textilforscher wie auch Newcomer im Textil- und Modebereich gleichermaßen: Eines möglich frühen Tages sollte alles, was wir an Bekleidung tragen, entweder recycelbar oder vollbiologisch abbaubar bzw. verrottbar sein. Aber auch die hohen Retourenquoten beim Online-Versand sind aus mehrfacher Hinsicht so nicht mehr hinnehmbar. Patentrezepte dagegen gibt es zwar nicht; allerdings sind Lösungsansätze sichtbar. textile network stellt in lockerer Folge Start-ups aus dem deutschsprachigen Raum vor, die mit Blick auf eine verbesserte Kreislaufwirtschaft deutlich die Grenzen des bisher Möglichen sprengen.
Folge 7: Shapematchr GmbH (Berlin)
Passformfähig mit KI: Die Test-Community ist begeistert
Der Anspruch ist gewaltig und richtet sich zunächst an die Damenwelt: Sie soll durch die Nutzung ihres persönlichen Shopping-Profils auf Basis ihrer tagesaktuellen Körperdaten in der Lage sein, exakt passend zu individuellen Körperform und persönlichen Präferenzen einzukaufen. Online-Shopping ohne Frust, Bekleidungsversand ohne Passform-begründete Retouren, Kanalisierung vorhandener Markenprodukte zu den exakt passenden Kundinnen. Mit dieser Zielsetzung ist das Berliner Start-up Shapematchr (Passformübereinstimmung) angetreten. Deren Gründerin und Mit-Gründer sind Digital-, Analytics und E-Commerce-Spezialisten, die sich jeweils seit mehr als einem Jahrzehnt in den größten Fashion-Online-Shops des Landes oder Immobilienportalen ihre Sporen verdient haben. Sie und Millionen Kunden wissen aus Erfahrung: Das Konfektionsgrößensystem ist unzuverlässig und hat sich eigentlich überlebt.
Mit einem mehrjährigen Vorlauf nehmen jetzt bei Shapematchr Ideen und Serviceangebote zur exakten Passformbestimmung Gestalt an. Kernprodukt sind ein Algorithmus und die gewonnenen exakten Profilmaße, die zurzeit noch per Videoanleitung in Online-Events mit mehreren Frauen und erfahrenen Schneiderinnen manuell erhoben werden. Die Frauen können mit den gewonnen Daten ihre User-Profile in der App der Firma anlegen. Schon in diesem Stadium zeigen sich die 250 Mitglieder einer Test-Community begeistert. Mittelfristig soll die Vermessung und das Anlegen eines individuellen Shapematchr-Profils durch Scanning-Technologien via SmartPhone oder via Smart Mirrors erfolgen. Ziel ist es, die passformbedingten Retouren gegen Null zu fahren und so Wertverluste bei den Modeartikeln sowie Retourkosten bei den Brands zu reduzieren.
Fragen zum Nachhaltigkeitsanspruch dieser Lösung beantwortet Stefanie van Laak, Mitbegründerin und Geschäftsführerin des erst im vergangenen Oktober gegründeten Start-ups.
textile network: Corona und Mode: Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Stefanie van Laak: Für die Modebranche, die zu Corona-Zeiten im Wesentlichen nur Umsatz über das Internet macht, ist es wichtiger denn je, sich um die Retouren-Problematik zu kümmern. Jeder weiß: Waren-Umtausch und -rückgaben gehören immer noch zum „Normal“-Standard. Das nervt die Kunden im Einzel- und Onlinehandel ebenso wie die Hersteller und Brands selbst, weil Retouren nicht nur teuer sind, sondern aus wirtschaftlichen Gründen leider noch allzu oft zur Vernichtung von Waren führen.
Die Zeit ist inzwischen reif für Lösungen, zumal es bald technisch möglich sein wird, sich von Zuhause scannen zu lassen. An entsprechenden Serviceangeboten arbeiten einige Unternehmen. Wir haben dabei wahrscheinlich den Vorteil, dass wir die E-Commerce- und Fashionwelt in- und auswendig kennen. Von daher verstehen wir auch aus der Sicht der Produzenten und Händler die Bedürfnisse. Wir kommen also nicht nur mit einer technischen Lösung daher.
textile network: Welche weitere Lösung neben der technischen meinen Sie?
Stefanie van Laak: Wir bieten ein komplettes Modell, das ein optimales Einkaufserlebnis schafft und nicht nur die technische Datenerfassung (Scanning). In der ersten Stufe geht es um die exakte Passformfähigkeit, in der zweiten dann um den Geschmack, das Bestellte muss ja auch gefallen. Input bekommen wir dafür unter anderem auch durch Textilforscher/innen und von Bekleidungstechniker/innen aus Hohenstein zum Datenmodell oder auch von der HTW in Berlin.
Im Team sind wir uns einig: Der Einkauf nach Körperdaten, die natürlich immer wieder aktualisiert werden müssten, wird das Shoppen nach Bekleidungsgrößen ablösen. Bekleidungsgrößen also solches sind nicht mehr zeitgemäß und passen nicht mehr in unser Jahrhundert. Vision von Shapematchr ist es, solche individuellen und auf einer App abgebildeten Datenprofile nicht nur für den Fashion-Bereich anzuwenden. Im Grunde genommen können solche digitalen Körpersteckbriefe dann auch für andere passformkritische Bereiche nützlich sein – ergonomische Möbel, Sitzeinstellung beim Car-Sharing usw.
Shapematchr auf einen Blick:
Gründung: 2020
Gründer: Stefanie van Laak (CEO), Hubert Volz (CTO), Jan Jantzen (CDO/CFO)
Mitarbeiter: 7
Alleinstellung: Portal zur Kanalisierung von Fashion-Produkten aus dem Massenmarkt zum am besten passenden Kunden durch persönliche Shopping-Profile auf Basis realer Körperdaten
textile network: Retourenvermeidung ist ein Vernunfts- und Nachhaltigkeitsgebot zugleich. Von welchen Größenordnungen sprechen wir?
Stefanie van Laak: Bei Frauen liegen wir je nach Produktgruppen bei Retouren zwischen 55 und 80 Prozent, die im Standard 11 Euro kosten. Höherpreisige Anbieter können das in der Regel durch die Marge abfangen. Schon im mittelpreisigen Segment sieht das ganz anders aus. An der Stelle wird es verdammt schwierig, weil die Einbuchung dann teurer wird als der Gewinn es zulässt. Eine Rechnung besagt: Bei einer Retourquote von 50 bis 55 Prozent müsste der Verkaufspreis bei über 35 Euro liegen, damit zum Schluss noch etwas für den Händler übrig bleibt. Mit anderen Worten: Eine Einbuchung unter dieser Preisschwelle macht wirtschaftlich keinen Sinn mehr. Aus diesem Debakel gibt es nur einen Ausweg: Die Ware muss auf Anhieb passen und gefallen. Genau daran arbeiten wir.
textile network: Was passiert im Jahr zwei Ihres Unternehmens?
Stefanie van Laak: Unser Fokus liegt nun darauf, bis zum Jahresende dann insgesamt zehn Brands als Partner zu haben. Mit deren Produktdaten soll unser Algorithmus verbessert werden. Ein weiteres Ziel ist es, nach der jetzt auslaufenden Förderung durch den Berliner Senat eine Anschlussfinanzierung zu bekommen. Damit könnten wir wachsen und neue Stellen in unserem Tech-Team, etwa für Bekleidungstechniker schaffen.
textile network: Wie sieht Ihr Startup 2025 aus?
Stefanie van Laak: In drei, vier Jahren, so unsere Hoffnung, wird im Internet wie auch im Einzelhandel vermehrt über Größenprofile eingekauft werden. Die Körpermaße dafür werden per SmartPhone über unsere App erfasst, am Ikea Pax Schrank mit Smart Mirror oder im Shop nebenan in einer smarten Umkleidekabine. Wir selbst werden unsere erste Wachstumsphase abgeschlossen haben; unsere Mitarbeiter arbeiten vermehrt auch aus dem Ausland zu – durch Remote First haben wir internationalen Zugang zu hochkarätigen Teamergänzungen. Bis Ende des Jahres planen wir ein Teamwachstum auf etwa 30 Experten in den Gebieten Augmented Reality, Artificial Intelligence, Data Science & Data Engineering sowie Bekleidungstechnik.
Für 2021/2022 planen wir ein notwendiges Investment von ca. 2 Mio. Euro. Für weiteres Wachstum werden natürlich Anschluss-Investitionen notwendig – in unserer Planung haben wir nach drei bis vier Jahren den Break Even erreicht. Wir können uns auch durchaus vorstellen, strategische Partnerschaften mit Brands oder mit einem Zusammenschluss aus Brands einzugehen.