06.04.22 – Biomimetisches Trommelfellimplantat

Dauerhafte und komplette Rehabilitation des Trommelfells

Bahnbrechendes Ergebnis eines IGF-Forschungsprojekts: Ein künstliches Trommelfellimplantat, das die körpereigenen Schwingungseigenschaften exakt widergibt.

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Das Forschungsteam (v. l.): Dipl.-Ing. Lukas Benecke und Dr.-Ing. Dilbar Aibibu von der Technischen Universität Dresden sowie Prof. Dr. Marcus Neudert und Dr.-Ing. Zhaoyu Chen von der Technischen Universität Dresden, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde. © AiF

 
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Das Trommelfellimplantat erlaubt eine naturgetreue Schallleitung und fühlt sich nahezu wie natürliches Gewebe an. © ITM

 

Über 30 Mio. Menschen leiden jährlich an den Folgen eines defekten Trommelfells. Ohne fachmedizinische Behandlung kann dies zu dauerhaften Schäden und schwerem Hörverlust führen. Ein künstliches Trommelfellimplantat, das erstmals die körpereigenen Schwingungseigenschaften exakt widergibt, ist das Ergebnis einer erfolgreichen Kooperation von Medizin und Wirtschaft im IGF-Forschungsprojekt „MyringoSeal“.

Zur Rekonstruktion des Trommelfells, der sogenannten Myringoplastik, werden heute körpereigene Knorpel-, Muskelhaut oder synthetische Materialien eingesetzt. „Da deren Materialeigenschaften nicht denen des natürlichen Trommelfells entsprechen, ist damit eine vollständige Rehabilitation der Trommelfell-Funktion nicht möglich“, erklärt Professor Marcus Neudert vom Ear Research Center Dresden, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus, Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde (HNO) Dresden der Technischen Universität Dresden.

Bisher einmalig

Dr.-Ing. Dilbar Aibibu und Lukas Benecke vom Institut für Textilmaschinen und Textile Hochleistungstechnik der Technischen Universität Dresden sowie Dr.-Ing. Zhaoyu Chen und Neudert von der HNO-Uniklinik entwickelten innerhalb des IGF-Vorhabens „MyringoSeal“ ein biomimetisch aufgebautes künstliches Trommelfellimplantat, dessen Schwingungseigenschaften und Druckstabilität mit denen eines menschlichen Trommelfells vergleichbar sind. „Das ist bisher einmalig. Die neuartige Membran ermöglicht eine dauerhafte und komplette Wiederherstellung des Trommelfells. Die Herstellung solcher Implantate ist mithilfe der Elektrospinntechnologie aus den Biomaterialien Seidenfiboin und Polycaprolacton realisierbar“, beschreibt Aibibu die Forschungsergebnisse.

Anders als die aktuell verwendeten Materialien erlaube das Trommelfellimplantat eine naturgetreue Schallleitung. Es fühle sich, laut Chen, operativ wie natürliches Gewebe an. „Bei der Entwicklung achteten wir darauf, dass es sich um schneidbare Materialien handelt. Damit kann die Membran direkt an den Trommelfelldefekt des Patienten oder der Patientin angepasst werden“, so Benecke weiter. Das Material halte aufgrund seiner Eigenschaften auch über Wasseradhäsion an Ort und Stelle, da Naht- und Klebetechniken in diesem Bereich naturgemäß nicht eingesetzt werden können.

Auch in anderen Branchen anwendbar

Die Forschenden kooperierten in dem IGF-Projekt unter anderem mit der Heinz Kurz GmbH aus Dusslingen. Deren Geschäftsführer Matthias Mertens fasst seine Erfahrungen zusammen: „Als mittelständischer Hersteller von Medizinprodukten, gerade im Bereich der HNO und der Passiven Mittelohrimplantate, sind wir von den Ergebnissen begeistert. Zum einen, weil sich für den Patienten völlig neue Therapien auftuen, für die es bisher keine Option gab. Zum anderen stärkt es uns auch im Wettbewerb, indem wir uns von dem, was auf dem Markt ist, abgrenzen können.“

Weiter betont Dr. Andreas Förster, Geschäftsführer der Dechema Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie e.V., eines von 100 AiF-Mitgliedern: „MyringoSeal ermöglicht die passgenaue Herstellung von komplexen Fasermaterialien. Dadurch ergeben sich vielfältige Anwendungsmöglichkeiten, nicht nur in der Medizintechnik, sondern auch in anderen Branchen, wie der Elektrotechnik oder der Architektur. Faktoren wie die anwendungsorientierte Zusammenarbeit mit kleinen und mittleren Unternehmen sowie die branchenübergreifende Nutzungsoption der Forschungsergebnisse machen dieses Projekt zu einem herausragenden Beispiel der Industriellen Gemeinschaftsforschung.“

  • Das vorwettbewerbliche IGF-Projekt wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) mit öffentlichen Mitteln gefördert. Die AiF begleitet und koordiniert die IGF im Auftrag des BMWK.
  • Das Forschungsprojekt war Ende 2021 unter den Nominierten für den Otto von Guericke-Preis der AiF Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen „Otto von Guericke“ e.V. Die AiF vergibt den mit 10.000 Euro dotierten Preis seit 1997 an Wissenschaftler für besondere Innovationsleistungen auf dem Gebiet der vorwettbewerblichen Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF). Eine kurze Vorstellung aller 2021 für den Otto von Guericke-Preis nominierten IGF-Projekte gibt es auf der Website der AiF.